Mittwoch, 29. Dezember 2010

Thekentänzer (38)

Onkel Hubert ist tot

Ein etwa 50-jähriger Mann mit russlanddeutschem Akzent hat eine Frage: „Haben Sie hier richtige Guinness-Gläser?“
Die irische Kellnerin antwortet: „Ja“, und zeigt ihm eines.
„Wieviel kosten die?“
„5 Euro.“
Typ mit russlanddeutschem Akzent: „Dann nehme ich zwei, können Sie mir die einpacken?“
„Ja.“
Rechts an der Theke stehen zwei ältere Pärchen. Die Frauen trinken kleine Kilkennys, die Männer große Guinness. Einer der Männer ist ein furchtbarer Schwätzer, der keinen anderen zu Wort kommen lässt: „Jetzt hör mir mal zu: Mit dem Calmund kann man doch keinen normalen Sex machen, das kannst du mir doch nicht erzählen. Der hat ja dieses junge Ding, ich sach dir was: Die kann sich doch höchstens auf den draufsetzen, aber ich weiß noch, wie der Overath noch gespielt hat, da taugte der FC noch was, mit dem Calmund wären die besser gefahren.“
Aus den Boxen singt Chris de Burgh, dass man den Fährmann nicht bezahlen sollte, bevor man am anderen Ufer ist. Die Kellnerin wickelt zwei Pintgläser in die Sun.
Typ mit russlanddeutschem Akzent: „Gibt es die auch in kleiner?“
„Ja, als Half Pints.“
„Dann nehme ich lieber zwei davon.“
„Sie wollen die großen jetzt doch nicht?“
„Nein, die sind mir zu groß.“
Der Schwätzer hat indes das Thema gewechselt: „Warum spielen die hier eigentlich nicht mal was Irisches, nur diesen Amimist, also wirklich, für Fußball interessiere ich mich ja nur wegen meiner Tante Else, die hat mich da drangebracht, das habe ich dir bestimmt schon mal erzählt. Pass auf: Die hatte ihren Mann verloren im Krieg, meinen Onkel Hubert, und damals gab es den FC ja noch gar nicht, weil die sind ja dann erst fusioniert.“
Die Kellnerin wickelt die Pintgläser aus und verpackt stattdessen die Half Pints.
Typ mit russlanddeutschem Akzent: „Und was kosten die?“
„Auch 5 Euro.“
„Aber da passt doch nur die Hälfte rein!“
Die Kellnerin erwidert nichts - das ist der größte Moment dieses Einakters. Dann hat sie fertiggepackt.
„Zehn Euro dann bitte.“
Typ mit russlanddeutschem Akzent: „Danke.“
Der Alte nimmt den Beutel entgegen, geht zur Tür, dreht sich dann aber noch einmal um: „Also für den Preis hätte ich dann gern auch noch ein paar Bierdeckel.“
Der Schwätzer trinkt einen Schluck. Seine Frau kuckt dem Schluck hinterher. Gerade jetzt fällt ihr nichts ein, das sie in diese Pause hinein sagen könnte. Auch das andere Paar wirkt wie erstarrt. Die Kellnerin wirft dem Rußlanddeutschen eine Handvoll Bierdeckel in die Tüte, und anstatt nun endlich zu gehen, sagt dieser elende Mensch: „Noch paar mehr, bitte!“


Ein Hoch auf Onkel Hubert (Gästebuch des Marine-Ehrenmals in Laboe/Kieler Bucht)

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Mittwoch, 22. Dezember 2010

Fotoroman (4)

Die Lady mit dem Dufflecoat

Jake saß im Schlösselchen, einer schäbigen kleinen Kneipe in Sülz. Um ihn herum unterhielt man sich, aber Jake summte ganz allein ein Liedchen vor sich hin: „Chicken is nice“. Es handelte von Frauen, die schlecht kochen, Frauen, die dich fertig machen und für den nächstbesten Mistkerl verlassen. Nach sieben Bier zog Jake weiter. Die Lady im Dufflecoat war ihm schon auf dem Hinweg aufgefallen. Jake trat hinter einen Baum und fotografierte sie heimlich.


Im Haus Keldenich diskutierten zwei alte Säcke.
„Der Typ hat Hände wie Bratpfannen, Heinz!“
„Wenn du den richtig triffst, fällt der auch, Willi.“
Jake summte weiter: „I don´t want no wife from Robert´s Falls/ Don´t want no wife from Robert´s Falls/ The only dish she can cook is fried fish/ I don´t want no wife from Robert´s Falls.”
Und draußen stand die unbekannte Frau und lächelte geheimnisvoll.


Jake war inzwischen nicht mehr ganz nüchtern. Im Stiefel auf der Zülpicher haute er sich in die Nische links vom Tresen. „Hamburg ist von Darmstadt weiter weg als Köln“, sagte der Kleine mit der Lederjacke. „Ja“, antwortete sein Jeansjackenkumpel, „und Frankfurter können nicht fechten.“
Bob Dylan schlief bei Dave van Ronk, als er Ende der 50er nach New York ins Greenwich Village kam. Van Ronk hatte den Song angeblich aus Liberia: „I don´t want no wife from Cape Palmas/ Don´t want no wife from Cape Palmas/ If I move around, she´ll put me in the ground/ I don´t want no wife from Cape Palmas”.
Als er die Frau vor dem Stiefel entdeckte, stellte er fest, dass sie rauchte. So langsam machte Jake sich Sorgen.


Das Versus hieß früher Schmeller und noch früher Hatsch. Ja, genau: Das sollte tatsächlich an „Hatschi“, das Niesgeräusch, erinnern. Jake war nun völlig hinüber, es ging ihm gut.
„Du bist heute schon die dritte Claudia“, sagte der Kellner und notierte sich den Namen.
„Na und“, sagte Claudia. Ihre Wildlederstiefel waren durchweicht vor Nässe, Kajal tropfte ihr auf die Knie. Jake sah zu, dass er Land gewann: „I don´t want no wife from Sino/ Don´t want no wife from Sino/ If I go out late at night, she´ll challenge me to a fight/ I don´t want no wife from Sino”. Der Mantel der Frau hatte große Taschen. Jake fragte sich, was darin verborgen war.


„Schock 5 in 2, Baby“, sagte der bebrillte Bartträger.
„Für solche Momente wird man ein großer Junge, gell“, antwortete der unbebrillte Bartträger. Im Metronom lief Lionel Hampton, klimperklamper auf dem Vibraphon. Die Frau ließ sich nicht abschütteln.
Der Unbebrillte reichte dem Kellner sein Handy: „Sag mal: ´Komm her!´“
Der Kellner tat, wie ihm geheißen: „Und? Ist sie hübsch?“
„Nein, das war nur mein großer dicker Papa.“
Die Frau machte sich keine Mühe, ins Dunkel abzutauchen. Ob sie wohl kochen konnte? „I don´t want no wife from Monrovia/ Don´t want no wife from Monrovia/ When my money gets low, to another she´ll go/ I don´t want no wife from Monrovia”.


Als Jake gegen 2 aus dem Blue Shell fiel, war die Frau verschwunden. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt. Der Vollmond schielte durch das dichte Schneetreiben, um ihn herum starben die letzten Menschen. Jake drückte sich zwischen zwei parkende Autos, stützte sich auf dem Auspuffrohr ab und legte sich schlafen. Und Dave van Ronk, der riesige Holländer, sang sein Lied zu Ende: „But chicken is nice/ chicken is nice/ chicken is nice with palm butter and rice.“


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Mittwoch, 15. Dezember 2010

Fränki (3)

Breitcordhosen

„Ich bin der Heiner“, sagt dieser Vollspacken. Dabei hab ich den gar nicht nach seinem Namen gefragt. Ich will ja nur mein Bier trinken, und hinten in der Ecke wär auch nochn Platz freigewesen. Da wo sich immer die Mäuse verstecken, die hätten dann an dem seiner bescheuerten Breitcordhose knabbern können. Aber da setzt der sich genau neben mich. Der verdammten Spacken!
Der hat nicht gesagt: „Ich heiße Heiner“, sondern „Ich bin der ...“ Der ist hundertpro so ein elender Körnerfresser. Und dann macht der auch so eher „Üch bün dör ...“, weil er die Zähne nicht auseinanderbekommt. So Heydu Hörma Hattu Möhrchen. Und immer ne Brille und Breitcordhosen und auch total unattraktiv, diese alten linken Typen. Linkssein war denen ihre einzige Chance, um mal unter irgendnen Rock zu kommen, das ist völlig klar. Die sind nur irgendwie links, weil sie ficken wollen, so: Heydu Hörma, Ische. Ich bin total politisch, und ich studier auch Jura deswegen. Also wenn du dich mal an ne Schiene ketten willst oder so, ich pauk dich da hundertpro raus. Aber fürs Erste könnten wir ja vielleicht mal in die Pofe gehen, was meinst du?
Und dann lassen die ihre braune Breitcord aufn Boden gleiten und alle sehn ihren schlabbrigen Bauch mit den dicken Haaren dran.
Da is mir son Typ von der CSU echt lieber. Der tut wenigstens nicht so als ob. Der futtert Knödel und schickt seine Kinder in den Religionsunterricht. Und die hat er auch schon mit 20 gekriegt, wo aber die linken Väter alle steinalt sind. Hab ich denen auch mal gesagt, als da wieder son grauhaariger Spacken mit nem Kinderwagen vorbeikam. Voll am Abkreischen, die Kleine, sag ich, sei lieb, dann kauft der Opa dir bestimmt n Eis. Und das war natürlich eigentlich der Vater von der, und das wusste ich auch. Und wie der mich dann angekuckt hat, der Arsch. Das war klasse.
Eigentlich sollte man alle, die mit 40 noch gegen Atomkraft protestieren, nach Guantanamo schicken. Oder wenigstens nach Stammheim. Und alle, die Breitcordhosen tragen, und alle, die „Ich bin der Heiner“ sagen. Da können die dann ja zusammen Jura studieren und in Hungerstreik treten: Wir wollen keine gestreiften Knastklamotten, wir wollen unsere Breitcords zurück. Breitcordhosen sind Menschenrecht, oder so. Hundertpro labert der mich gleich wieder an, der Spacken. Das wär dann echt zuviel, da geh ich besser erstma pinkeln, und dann setz ich mich woanders hin. Aber dicke!

DDR für Kühe


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Mittwoch, 8. Dezember 2010

Straßenkämpfer (15)

Irland ist pleite und beschwört den inneren Zusammenhalt. Wie das vor 130 Jahren funktionierte, zeigt der folgende, hier erstmals veröffentlichte Artikel.


Der erste Boycott

Charles Cunningham Boycott (1832-97) lebte als englischer Gutsverwalter in County Mayo, Irland. Am 23. September 1880 ging sein Name in die Geschichte ein.


Der amerikanische Journalist James Redpath und sein Freund, Pater John O´Malley aus Ballinrobe im Westen Irlands, hatten ein ländlich-üppiges Mahl hinter sich. Obwohl bei O´Malley eher das Weihwasser als der Whiskey versiegte, wirkte sein Gast heute merkwürdig verdrossen.
„Ich suche nach einem Wort“, erklärte er schließlich.
„Worum geht´s?“ fragte Pater John.
„Wenn die Leute einen gemeinen Landräuber schneiden“, begann Redpath, „dann sprechen wir von Ächtung. Aber für eine Kampagne gegen Leute wie diesen Boycott bräuchten wir etwas völlig Neues, um solche Aktionen populär zu machen. Und mir fällt, verdammt nochmal, nichts ein.“
O´Malley griff zu seinem Glas, gefüllt mit spirits, den Lebensgeistern, und sie sprachen aus ihm: „Wie wäre es, wenn wir das ´Boykottieren´ nennen würden?“

Man schrieb den 23. September 1880. Ein neues Wort war geboren, und nachdem Redpath es drei Wochen später in einem Artikel für die US-Zeitschrift Inter Ocean erstmals verwendete, schwappte es in Windeseile von den Vereinigten Staaten zurück in seine irische Heimat. Es überzog die britische Insel, den Kontinent und die halbe Welt, um die ihm vorbehaltene Nische zu füllen. Seitdem ruht es felsenfest zwischen Nachbarn wie dem Embargo, der Disqualifikation, der Ächtung und dem Streik. Aber während der Boykott heute zumeist die Isolation einzelner durch eine mächtigere Staatengemeinschaft bezeichnet, stand seine Geburt unter einem ganz anderen Stern: Es war der verzweifelte, in seinem Verlauf irrwitzige und letztlich erfolgreiche Versuch einiger Entrechteter, ihren Peiniger in die Knie zu zwingen.

James Redpath hatte sich in den USA bereits als Verfechter der Anti-Sklaverei-Kampagne einen Namen gemacht, bevor es ihn im Frühjahr 1880 nach Irland zog. Verschiedene Anzeichen deuteten darauf hin, dass sich die in Armut dahinsiechende Landbevölkerung wieder einmal erheben würde. Nicht zufällig landete Redpath im zur Provinz Connacht gehörenden County Mayo. „To Hell or Connacht“ lautet eine seit den Tagen des grausamen Cromwellschen Irlandfeldzuges gebräuchliche Redewendung. Der karge, gebirgige Landstrich nördlich der Galway Bay bietet zwar heutzutage den Touristen fotogene Motive zuhauf, aber wie eh und je kaum landwirtschaftlich nutzbare Flächen.
Ein Glücksfall bescherte dem Journalisten die Bekanntschaft des Pfarrers John O´Malley. Historischen Quellen zufolge muss man ihn sich als eine Art irischen Don Camillo vorstellen. O´Malley verschaffte dem Journalisten Zugang zum ´einfachen Volk´, bei dem er beliebt war wegen seines derben Humors, seiner Geselligkeit und der Schwäche für die Flasche. Aber Pater John war nicht nur ein gewaltiger Trinker vor dem Herrn, sondern gleichermaßen ein so treuer wie geschickter Diener desselben. Seinem italienischen Bruder ebenbürtig verstand er es, die Gedanken seiner Schäfchen zu lesen, auf fahrende Züge rechtzeitig aufzuspringen und sie auf die Gleise der Kirche zu leiten. In jenem Herbst 1880 war O´Malley der richtige Mann am richtige Platze.

Am 16. August 1879 hatte sich in Castlebar, im Herzen Mayos, die Land League gegründet. Schnell fand diese politische Vereinigung für die Interessen der Bauern und Landarbeiter Anhänger in ganz Irland. Ihr Gründer war der im beschaulichen Flecken Straide nördlich von Castlebar geborene Michael Davitt (1846-1906). Bis dahin hatte er ein klassisches irisches Schicksal des 19. Jahrhunderts durchlebt. Als er vier Jahre alt ist, wird seine Familie von ihrem Pachthof vertrieben und nach England verschlagen. Seinen Job als Spulenwechsler verliert der 11-jährige, als ihm bei einem Arbeitsunfall ein Arm abgerissen wird. Er schließt sich den paramilitärischen Fenians an, einem Vorläufer von Land League und IRA. Mit 24 Jahren wird er in London bei dem Versuch verhaftet, Waffen nach Dublin zu schmuggeln. Er landet im berüchtigten Gefängnis von Dartmoor. Weil der Einarmige nicht als Steinbrecher zu gebrauchen ist, spannt man ihn wie einen Ochsen vor den Schleppkarren. Als er Ende 1877 nach sieben Jahren auf Bewährung entlassen wird, hat Davitt der Guerilla-Taktik der Fenians abgeschworen. Seinen Einfluss als gefeierter Widerstandskämpfer nutzt er zur Gründung der Land League.

Davitt predigte zwar Gewaltfreiheit und Parlamentarismus. Dennoch kam es im Anschluss an die zahllosen Auftritte der League zuweilen zu Ausschreitungen gegen die Landlords, die protestantische Grundbesitzerkaste. Während die katholische Kirche den Umtrieben der Organisation deshalb ablehnend gegenüberstand, erkannte der einfache Landpfarrer O´Malley die Chance, die diese wiedererwachte Bereitschaft zur Auflehnung barg. In ihren Reden hatten Davitt und sein Mitstreiter Parnell ein neuartiges Mittel propagiert, das blutsaugerische Landlords der totalen Isolation ausliefern sollte. Und am Lough Mask gab es einen Mann, der diese Form der Ächtung anscheinend über die Maßen verdiente: Charles Cunningham Boycott. Gegen sein über Leichen gehendes Regiment organisierten O´Malley und Redpath jenen historisch gewordenen Feldzug gleichen Namens.

Charles Boycott, der sich seit seiner Offizierszeit bei der britischen Armee „Captain“ nennen ließ, arbeitete seit 1873 als Gutsverwalter für einen gewissen Lord Erne. Wie viele seines Schlages lebte dieser Landlord in England und finanzierte sein Nobility-Leben mit den Pachtzinsen, die sein Agent Boycott den irischen Bauern abpresste. Boycott selbst residierte in Lough Mask House, einem festungsartigen Herrschaftssitz abseits der kleinen Straße zwischen Ballinrobe und Cong. In den Pubs der Umgegend malt man noch heute das Bild des ehemaligen Agenten: ein wortkarger, verbitterter Mann, dessen Befehlston und stierer Blick nicht nur die Kinder erschauern ließ und der zur Unterstreichung seiner Autorität gern einen satten Rohrstock in der Hand wiegte.

Als im Spätsommer 1880 wieder einmal die Zeit der Zinseintreibung nahte, sahen sich elf Bauernfamilien der Erne-Ländereien außerstande, ihre Abgaben zu leisten. Die Kartoffeln, Hauptnahrungsmittel der irischen Landbevölkerung jener Zeit, waren im zweiten Jahr zwergenwüchsig geblieben. Ein Großteil war auf den Feldern verrottet. Boycott griff zum bis dahin üblichen Mittel: der Eviction, einer barbarischen Vertreibung von Haus und Hof. Auf über 90.000 schätzt man die Zahl der Evictions zwischen 1847 und 1880. Ihre Vollstreckung wurde regelrecht zelebriert. Ort und Zeit wurden – den Nachbarn zur Abschreckung, der Presse zum Schauspiel – stets vorher bekanntgegeben. Mittels Rammböcken schlug man Löcher in die Wände, stopfte die niedrigen Bruchsteinhäuser mit Stroh und Reisig und brannte sie unter den Augen der Opfer nieder. Nachdem in früheren Zeiten lediglich das Dach abgerissen worden war, hatte sich diese Methode als die effektivere erwiesen. Allzu oft hatten die Obdachlosen noch in der gleichen Nacht mit dem Wiederaufbau begonnen.

Eskortiert von mehr als zwei Dutzend Polizisten, rückte am Morgen des 22. September der örtliche Büttel aus, um Boycotts Eviction-Formulare an die säumigen Pächter zu verteilen. Drei Mal ging alles glatt, aber am vierten Hof stieß er auf ungewohnten Widerstand. Die Farmersfrau weigerte sich zu unterschreiben und schwenkte stattdessen die rote Fahne, das Alarmsignal für die Nachbarn. Während die Männer fernab auf den Feldern arbeiteten, strömten die Bäuerinnen zum Heim ihrer Leidensgenossin. In ihrem in den 1970ern verfilmten Buch „Captain Boycott and the Irish“ schildert die Historikerin Joyce Marlow, was dann geschah: „Die Frauen der Lough-Mask-Region fielen über die Polizisten her, bewarfen sie mit Dreck, Steinen und Dünger. Anstatt weiter ihrem unwürdigen Handwerk nachzugehen, nahmen die Constabler ihre Beine in die Hand und flohen zu Boycotts Anwesen. Als dieser gegen Abend heimkam, saßen die perplexen Beamten dort immer noch, und stückweise erschloss sich Boycott die Geschichte der wilden Frauenzimmer und ihres erfolgreichen Widerstands.“

Was Boycott im ersten Moment vielleicht nur ein müdes Lächeln kostete, sollte ihn bald in seiner ganzen Existenz erschüttern. Denn fortan entwickelte die Geschichte eine nicht mehr aufzuhaltende Dynamik. Noch am selben Tag erfuhr jeder schwerhörige Greis in Ballinrobe von den Geschehnissen am fünf Meilen westwärts gelegenen See. O´Malley und Redpath trommelten die Leute zusammen, beschrieben ihnen die Vorzüge jenes Verfahrens, das man bald Boykott nennen sollte, und organisierten für den kommenden Morgen einen Marsch zum Lough Mask House.
An Boycotts schmiedeeisernem Gatter trafen sie auf die ersten Bediensteten. Ohne Umstände schlossen sie sich dem Zug an. Im Verlaufe der Umtriebe vor Boycotts Domizil, die Teilnehmer als weniger aktionsreich denn lautstark beschrieben, schlugen sich auch sämtliche Hausangestellten auf die Seite der Aufständischen. Fortan rührte kein Schmied mehr einen Finger in Boycotts Ställen, keine Köchin mehr einen Löffel in seinen Töpfen. In Ballinrobe reichte ihm kein Händler mehr ein Stück Seife, kein Wirt einen Humpen Bier über die Theke. Der 12-jährige Postjunge lenkte sein Maultier nicht mehr gen Lough Mask House, und Boycotts Neffe, stattdessen nach Ballinrobe geschickt, musste bereits am Tor angesichts der dort wachenden Bauern unverrichteter Dinge wieder umkehren. Am Abend des 23. September waren Captain Charles Cunningham Boycott und seine Familie völlig isoliert – sie wurden boykottiert.

Michael Davitt und seine Land League hatten gezielt auf eine solche Eskalation hingearbeitet. Ihr binnen eines Jahres gewachsener Einfluss verdankte sich nicht zuletzt der moralischen und materiellen Unterstützung, die Freiheitsbewegungen auf dem Kontinent dem unter englischer Knute gehaltenen irischen Volk entgegenbrachten. „Wilde, die ihren durch das feuchte Klima erzeugten Durchfall mit riesigen Mengen Weinbrand zu heilen versuchen“ – so hatte noch der deutsche Barockromancier Eberhard Werner Happel die Iren beschrieben. Aber im ausgehenden 18. Jahrhundert rückte der literarische Ossianismus die gälische Mythologie ins Zentrum der aufkeimenden romantischen Volkskunde. Und nachdem die „Great Famine“, die Große Hungersnot zwischen 1845 und ´48, über eine Million Iren dahingerafft hatte, entdeckten die Jungdeutschen, schließlich auch die Kommunisten das revolutionäre Potential dieser unterdrückten Nation. „Gebt mir zweimalhunderttausend Irländer, und ich werfe die ganze britische Monarchie über den Haufen!“ frohlockte Friedrich Engels.
Wenn es auch nicht zum irisch initialisierten Aufstand der Arbeiter aller Länder reichte, so breitete sich die Land League doch immerhin bis nach Amerika aus. Michael Davitt war im Mai 1880 in den USA eingetroffen, stand der dortigen LL-Gründung vor und sammelte Spenden irischer Emigranten für den Kampf in der alten Heimat. Als er nach erfolgreicher Mission am 20. November wieder irischen Boden betritt, steht die von ihm ins Leben gerufene Bewegung kurz vor dem größten Triumph ihrer Geschichte.

In der Zwischenzeit fristeten die Boycotts das Leben ganz auf sich allein gestellter Farmer. Während Mrs. Boycott erstmals ihre Töpfe schrubbte, übte sich der Hausherr im Kühe melken und Ställe ausmisten. Auf seinen Wunsch hin war ihm mittlerweile zwar ein Kontingent Schutzpolizisten zugewiesen worden, aber jenseits des Zauns bekam er weiterhin kein Bein auf die Erde.
Sogar die örtliche Presse hielt sich dermaßen strikt an die Boykottregeln, dass das Wort womöglich nie um die Welt gezogen wäre. Wenn nicht zwei weitere Ereignisse seine rasante Ausbreitung befördert hätten. Denn am Lough Mask, jener still zwischen Waldbestand ruhenden Wasserplatte, war Schauerliches geschehen. Zwei Tage nach dem Marsch auf Boycotts Haus hatte man am Südende des Sees die von Kugeln durchsiebte Leiche eines kleineres Gutsbesitzers, Landlord Montmorres, gefunden. Wenn auch die Täter niemals ermittelt wurden, lag der Fall für die Behörden und die englandtreue Presse klar: Hier hatte die Land League ihr mörderisches Gesicht gezeigt. Und als ein völlig entmutigter Charles Boycott sich schließlich mit einem Hilferuf an die Londoner Times wandte, schwappte eine gigantische Welle protestantischer Solidarität ins County Mayo.

Dem fellow protestant Boycott, würdiger Veteran der britischen Armee, drohte die Ernte im Boden zu verfaulen, weil das irische Kroppzeug die Arbeit verweigerte. „Ein beängstigenderes Beispiel für den Triumph der Anarchie hat es in der Geschichte der Zivilisation nie gegeben“, hatte die Times Boycotts Leserbrief überschrieben. Andere Gazetten verglichen den Bauernprotest im hinterwäldlerischen Mayo mit der französischen Revolution und dem zeitgleichen Zulu-Aufstand in Südafrika. Dutzende Redaktionen wandten sich mit Spendenaufrufen an ihre Leser, Vereinigungen wie der „Boycott Relief Fund“ schossen aus dem Boden. Anfang November standen 500 Glaubensbrüder Spaten bei Fuß, um Boycotts Äcker zu retten, und gleichzeitig rüsteten sich in Dublin 1.000 Soldaten, um den Erntehelfern notfalls die Furche freizuschießen.
Der bedrängte Gutsverwalter fand derweil immerhin noch die Muße, seiner Passion, dem Pferderennen zu frönen. Als er jedoch gewahrte, was da auf ihn zukam, fiel er aus allen Wolken. Die Boycotts konnten sich kaum selbst versorgen, jeder Nagel, jeder Sack Mehl musste per Boot aus Cong unterhalb von Lough Mask beschafft werden, weil die Aufständischen sämtliche Ausfallstraßen bewachten. Ein Telegramm Boycotts verringerte die Zahl der Ulster-Freunde denn auch auf 50. Im Sonderzug rollten die zu allem entschlosenen Männer von Norden her an, während sich die britischen Truppen in mehreren Etappen durch den verregneten irischen Herbst kämpften. Ballast wie Zelte und Schlafsäcke hatten die meisten längst im knietiefen Schlamm zurückgelassen, als sie am 10. November völlig abgerissen in Ballinrobe eintrafen.

Mutete schon der Anmarsch der Helfer wenig durchdacht an, so verkam das Unternehmen vor Ort endgültig zur Farce. Boycotts schlimmste Befürchtungen bewahrheiteten sich: Binnen vierzehn Tagen war seine Ernte zwar eingefahren, aber zu einem Gutteil auch wieder verzehrt worden. Als seine Verbündeten sich am 26. des Monats mit patriotischen Treueschwüren verabschiedeten, hatten sie Boycott und die Regierung gut 10.000 Pfund gekostet. Der Erlös aus der verbliebenen Ernte betrug demgegenüber magere 350 Pfund. Boycott war bankrott.

Am nächsten Morgen, in aller Frühe, verließ er samt Familie das Land, in dem er dreißig Jahre lang die Garotte des englischen Kolonialismus bedient hatte. Zwanzig Kavalleristen begleiteten die Boycotts zur Bahnstation in Claremorris. Auf ihrem Weg blieben sie unbehelligt, aber nicht unbeobachtet. Was die Zeitzeugen sahen, war ein Flüchtling, davongejagt von ebenjenen, die er hatte vertreiben wollen; ein schwer angeschlagener Mann, der seinen Abgang passenderweise in einem militärischen Sanitätswagen vollziehen musste. Kein Geringerer als der Friedensrichter von Ballinrobe hatte im Vorfeld versucht, für die Boycotts eine angemessene Kutsche zu mieten. Es fand sich jedoch in der ganzen Stadt kein Fahrer, der auf sein Angebot auch nur reagiert hätte.



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Mittwoch, 1. Dezember 2010

Fotoroman (3)

In der VIP-Lounge des 1. FC Köln

In den VIP-Bereich des 1. FC Köln gelangt man unterhalb der Westtribüne. Am Eingang bekommt man ein Armbändchen überreicht:


Fortan lebt man im Schlaraffenland. Denn nun kann man sich von allem nehmen, soviel man will. Zum Beispiel von dem hier:


Dass hier alles für lau ist, erkennt man an den vielen noch vollen Tellern, die überall herumstehen. Die meisten Kölschstangen werden allerdings zuverlässig geleert. Beginnt das Spiel, begibt man sich zu seinem gepolsterten Sessel. Stets freundliche Hostessen versorgen den frierenden VIP-Gast mit heißem Kaffee:


Toll ist: Man sitzt direkt hinter der gegnerischen Trainerbank. So war es möglich, den alten FC-Heroen (und jetzigen Co-Trainer von Wolfsburg) Litti Littbarski so nah vor die Linse zu bekommen (links der Kleine, rechts Teammanager McClaren):


Und kurz nach dem Pausen-Diner stand es dann ja auch schon 1:0 für den FC:


Aber dann geht man mal eben pinkeln:


Und schon fällt das 1:1. Sehr ärgerlich, denn so stand es auch noch beim Schlusspfiff:



Bleibt die Frage: Was ist eigentlich Chai Latte?



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