Mittwoch, 30. Dezember 2015

Deutsche Sprichwörter (10)

Der Bonner Philologe Karl Simrock (1802-76) edierte unter anderem eine umfangreiche Sammlung deutscher Sprichwörter. Hier eine Wochenauswahl zum Thema: Archetypen

# Narren wachsen unbegossen.

# Lumpen gehen dreizehn aufs Dutzend.

# Schuldigen wackelt das Mäntlein.

# Stolze meinen, ihr Ei habe allzeit zwei Dotter.

# Mädchen beten gern vorm Spiegel.


Närrischer Kartoffelchip

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Mittwoch, 23. Dezember 2015

Thekentänzer (95)

Ein vorweihnachtliches Thekengespräch

„Mach meinen Deckel auf Harry.“
Erst läuft er zehn Mal auf und ab, wie Rilkes Panther. Danach setzt sich auf einen der Barhocker und verwandelt körperliche in sprachliche Energie:
„Einer erzählt mir, er hatte draußen schon einen Glühwein und wolle jetzt lieber einen Kräutertee. Der andere sagt, er rauche heut nicht. Sei zu kalt, um sich draußen hinzustellen. Da frag ich mich: Wie schaffen die das, so furchtbar diszipliniert zu sein?“
Im stummen Fernseher läuft eine amerikanische Komödie. „Mind your own business“, singt Hank Williams. Elke, die Frau im Thekenknick, hat Harrys Herumtigern mürrisch verfolgt. Nun aber beschließt sie, ihn zu mögen.
Aber ob er wohl auch sie mag?
„Ich interessiere mich für Ameisenbären“, beginnt sie das Gespräch.
„Mhm“, macht Harry und zieht sein Handy aus der Hose. Draußen torkelt ein Weihnachtsmann vorbei. Hinterm Bombay Sapphire stirbt eine Fliege. Aber die Frau gibt nicht auf:
„Ich bin eine Zwölfe, weißt du, was das ist?“
„M-m“, macht Harry, blickt aber dabei zum ersten mal zu ihr rüber.
„Das ist eine Elfe mit dicken Oberarmen“, sagt Elke.
„Aha“, antwortet Harry. Und grinst in sein Display.

War auch eine Zwölfe: Trude Herr

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Mittwoch, 16. Dezember 2015

Exerzitien in der Eifel

Ein Bericht


Erster Tag

Donnerstag, 16 Uhr 30

Mein Magen hat auf den letzten Bahnkilometern zu rumoren begonnen. Nun vor der Klosterpforte fühle ich mich, als stünde mir eine schwere Prüfung bevor. Kurz blitzen sogar lang vergessene Fluchtgedanken auf: Der Leiter ist jäh erkrankt, das Kloster ist einsturzgefährdet, es hat eine Bombendrohung gegeben, Gott ist tot.
Weil so etwas nie klappt, habe ich ich mir eine Taktik auferlegt: Ich will hier so unauffällig wie möglich bleiben. Aber schon mit dem Aufnahmegespräch ist sie dahin: „Ah, der Fragezeichenkölner“, sagt die Verwalterin.
Sie erzählt mir, ich sei der einzige unter zwölf Teilnehmern, der seine Kursgebühr privat überwiesen hat. Die übrigen fahren auf einer kirchlich-institutionellen Karte. Als Erzieherin im Jugendheim, Altenpfleger im kirchlichen Krankenhaus oder Teilzeitkraft in der Pfarrbücherei werden sie hier einen bezahlten Urlaub verbringen.
„Alle anderen sind schon da“, sagt die Verwalterin.


Donnerstag, 18 Uhr

Wie nennt man eigentlich einen Exerzitien-Teilnehmer? Exerzitier? Exerzitient? Exerzitionist?
Meine erste Teufelsaustreibung erlebe ich zum Auftakt des gemeinsamen Abendbrots. Pünktlich habe ich mich eingefunden in diesem archaischen Speiseraum mit seinen endlos hohen Decken. Gemeinsam mit den anderen schlendere ich zu den Tischen und nehme umstandslos Platz. Jetzt wird ein bisschen höflich palavert, sage ich mir, und dann geht´s schnurstracks ans Bufett. Zwar tue ich gelassen, aber die Wahrheit ist: Ich habe seit zehn Stunden nichts gegessen. Mein Magen hängt eher in den Socken als den Kniekehlen.
Aber irgendetwas läuft hier falsch. Ich sitze komfortabel, imaginiere eine doppelte Leberwurstwacke in meiner rechten Faust und bin gleichzeitig irritiert. Ein Blick ins Rund klärt mich auf: Ich bin der einzige an diesem Tisch. Alle anderen stehen hinter ihren Stühlen, die Hände streng vor der Brust oder zumindest lose vor dem Schoß gefaltet.
Heilige Einfalt!
Bleibt mir also nur, meinen Schemel wieder zurückschieben. Das nachhallende Kratzgeräusch, das die Holzbeine auf den Fliesen erzeugen, ist peinigend. Einige meiner Mitexerzienten blicken betreten weg, andere mich strafend an. Nur Else, die Frau aus dem Zug, lächelt amüsiert.
Schließlich stehe auch ich gottesfürchtig hinter meinem Stuhl. Der Kursleiter schickt mir ein aufmunterndes Kopfnicken: Hast du prima gemacht, Fragezeichenkölner! Mit einem kurzen Augenkontakt verständigen sich die Profis darüber, welches Gebet zu sprechen, welches Lied zu singen ist. Weil alle mit einstimmen, bewege auch ich die Lippen so synchron wie möglich.


Donnerstag, 18 Uhr 15

Else, die Frau aus dem Zug, hat sich neben mich gesetzt. Mir gegenüber thront der L., wie ich ihn nennen werde: unser Kursleiter. L. ist ein freundlicher, verheirateter Hilfspfarrer mit einem weichen, durchaus auch ein wenig schwammigen Profil. Er spricht so sanft, als bade er seine Stimmbänder allabendlich in Weihrauch. In den folgenden drei Tagen wird er kein Wort ohne ein begleitendes Lächeln von sich geben. Und heute, zur Einführung, erklärt er uns lächelnd: „Wir wollen es in diesem Kurs ein wenig lockerer nehmen. Sie dürfen reden beim Essen.“
Else scheint diesen Hinweis sehr zu begrüßen. Über ihren Teller mit Quark und gescheibten Gewürzgürkchen gebeugt erzählt sie mir, sie sei ausgesprochen exerzitienerfahren. Sie war schon in vielen verschiedenen Klöstern, sagt sie, und „jetzt endlich einmal wieder hier in St. Thomas.“ Auch habe sie in ihrem Leben bereits alle Arten von Kursen ausprobiert. Und sie wisse inzwischen, dass es ihr doch sehr auf den mündlichen Austausch ankomme. „Letztes Jahr, die Schweigeexerzitien in Bayern, das war nichts für mich.“
Am Kopfende des Tisches schließlich hat Bruno Platz genommen, ein Koloss von einem Mann. In den Kragen seines orangen Nickipullovers hat er sich eine Papierserviette gestopft, die nun wie eine winzige Fliege über seinem Brustbein wippt. Er mag dick sein, ist aber ganz bestimmt nicht doof: Weil er sich mit dem Rücken zum Bufett palziert hat, muss er für Nachschub nicht aufstehen. Zwischen zwei maßlosen Haufen Kartoffelsalat greift er Elses Faden auf.
„Am liebsten habe ich früher die reinen Fastenexerzitien gebucht: Zehn Tage lang nur Milch und Brötchen.“
„Wirklich nichts anderes?“ frage ich mit einer Mischung aus Respekt und Ungläubigkeit.
„Nur Milch und Brötchen“, schnauft Bruno empört, während er sich eine Schaufel Kartoffelsalat in die Backen schiebt, die andernorts ganze Dörfer ernährte.
„Großartig ist das“, legt er nach. „Man muss das Brötchen in die Milch stippen und schön lang auf dem Brei herumkauen. Dann wird man vollkommen satt.“


Donnerstag, 18 Uhr 55

„Mit beten und allem?“ hatte meine Frau gefragt, als ich ihr von meinem Plan erzählte.
„Naja, was heißt beten?“ hatte ich geantwortet und mich dabei innerlich gewunden. „Ich nenne das lieber meditieren.“
„Ach so, ja dann.“
Aber jetzt sitze ich in diesem Speisesaal und frage mich verzagt, ob wohl auch nach dem Essen wieder gesungen wird. Ein Abendbrotdankgebet, das erschiene mir logisch. Hinterm Bufett, direkt neben dem Eingang, steht der im Willkommensbogen erwähnte Kühlschrank mit kalten Getränken. Auch auf die Entfernung erkenne ich die wichtigen Flaschen aus Braunglas. Zumindest werde ich meine exerzitialistische Verzweiflung nachher herunterspülen können, ganz allein in meiner selbstverständlich radio- und fernsehfreien Kammer.
Aber wann ist nachher? Gewöhnliche Arbeitnehmer haben seit zwei Stunden frei, der L. jedoch lässt nicht locker: „Um halb 8 treffen wir uns zunächst im Ignatiusraum.“
Zunächst?


Donnerstag, 19 Uhr 30

Im Ignatiusraum sitzen wir im Kreis um ein Arrangement aus kleinen Ästen, getrockneten Blumen, Kerzen und bunten, hindrapierten Tüchern. Hier grüßt der Papst den Hippie, Paradies und Weihrauch küssen Nirwana und Patschuli. Der L. erklärt, dass wir jeden Tag einen Film mit religiöser Thematik sehen werden. Als roter Faden wird er sich durch unsere Gespräche und Diskussionen ziehen, ergänzt durch „Impulse“ des L.. In der Vorstellungsrunde sagt Bruno: „Am liebsten sind mir Fastenexerzitien.“


Donnerstag, 21 Uhr 30

„Oh, die haben ja geheizt“, sagt der L.. „Dann war vorhin wohl eine Beerdigung.“
Wir sind in den Chor der alten Klosterkirche gewechselt. Das Abendlob steht an, und Else hat mir glaubhaft versichert, dass danach endgültig Sabbat sei.
Bruno trägt nun eine grüne Trainingsjacke über dem orangen Nicki und wirkt beinahe hip. Unser erstes Lied handelt vom Zeitmangel auf Erden, von der Oberflächlichkeit und der Möglichkeit, bei allem Wesen und Wirken auf Gott zu Vertrauen. „Meine Zeit steht in deinen Händen“, hebt es an. Das Lied gefällt mir, und auch sein Titel: „Ausruhen!“
Die Akustik dieser um 1200 gebauten Kirche ist betörend. Leider jedoch entpuppt sich der Saarbrücker Sehbehindertenseelsorger, der mir schon wegen seiner am Rucksack baumelnden Bongotrommeln aufgefallen war, als furchtbarer Streber. Er kennt nicht nur den Text, sondern beherrscht zudem die zweite Stimme jedes Liedes. Und das beweist er uns eindringlich.
Sechs Strophen sollen wir singen, sagt der L.: zwei leise, zwei laut, dann wieder leise – „bis wir zum Ende hin verstummen.“
Also singen wir, verhalten und schallend, um uns zum Ende hin im Verstummen zu üben. Aber niemand verstummt so dramatisch wie der Saarbrücker Sehbehindertenseelsorger.


Zweiter Tag

Freitag, 6 Uhr 30

„Nonnen haben nicht allein ein strenges Gelübde der Keuschheit getan, sondern haben auch noch starke Gitter vor ihren Fenstern“, lautet ein Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg. Die Gitterstäbe sind verschwunden, aber spartanisch wirkt meine Kammer noch immer. Meterdick stehen die Mauern, Grabeskälte verströmend. Schwärzeste Finsternis umhüllt mich, während ich nach dem Lichtschalter taste. Warum tue ich mir das eigentlich an? fragt ein böser kleiner Teufel in meinem Innern.
Auf dem Weg zum Meditationsraum jedoch – welch ein Wandel! Mir ist, als sei ich zeitlebens nirgendwo anders gewesen als in St. Thomas. Das Rituelle aller Abläufe, die spirituelle Geschlossenheit der Gruppe und die sphärisch säuselnde Stimme des L. haben mich zu einem Herdentier gemacht. Zu einem Schäfchen des Herrn. Else könnte meine ältere Schwester sein, so vertraut erscheint sie mir, als sie mich im Treppenhaus grüßt. Der L. wäre demgemäß unser verehrter Vater und Lothar der Junge von den Flodders nebenan. Noch nicht eingeordnet bekomme ich den Saarbrücker mit den Bongos. Aber vielleicht wird man den ja irgendwie wieder los.
Unsere Meditationsstühle seien aus verschiedenen Hölzern geschreinert, sagt der L.. Eiche, Erle, Buche und Ahorn sendeten ihre jeweils eigenen Schwingungen aus, vielleicht gelinge es ja dem ein oder anderen, sie zu erspüren. Was ich sofort bemerke, ist die Polsterlosigkeit der Schemel. Eingeklemmt in den unbarmherzigen 90-Grad-Winkel zwischen Sitz und Lehne fühle ich mich wie im Billigflieger nach Torremolinos. Die Bastmatten, die wir unter die Füße legen sollen, knarzen strafend, sobald man seine Position auch nur minimal verändert.
Unser „Stilles Gebet“ ist auf 35 Minuten angesetzt. Ich stoße mich ein wenig an dieser Marge. Die 35 ist eine arg krumme und keinesfalls fromme Zahl. Aber damit nicht genug der Unbill. Kaum sind alle in sich versunken, beginnt mein Magen ein Stockhausenkonzert. Es fiept und quietscht und bollert da unten, als sei die Apokalypse im Anmarsch. Den meisten meiner Mitexerzisten ergeht es nicht anders, halb 7 ist einfach keine Zeit für Meditationen. Unsere Gebete kommen – im Sinne des Wortes – aus dem Bauch heraus. An solchen Orten der Stille spürt man, wann das nächste Knurren ansteht. Ich atme flach und flacher, aber es nützt nichts – Stockhausen hebt schon wieder drohend den Taktstock.
Der einzige, dem der stumme Tumult nichts auszumachen scheint, ist der dicke Bruno. Wahrscheinlich hat er auf seinem Zimmer schon heimlich ein paar Milchbrötchen eingeschoben. Wie ein seliger Buddha thront er da, und während sich alle anderen erfolglos um Einkehr bemühen, schneuzt Bruno sich ungeniert in sein lakengroßes Stofftaschentuch.


Freitag, 6 Uhr 45

Gedenkminuten in Fußballstadien dauern offiziell zwar 60 Sekunden, werden aber de facto spätestens nach einem Drittel beendet. Und selbst diese kurze Spanne erscheint dem Betrachter oft peinigend lang. 35 Minuten hingegen, das sind 2.100 Sekunden, eine Ewigkeit. In der letzten Viertelstunde habe ich alles rekapituliert, was ich über Meditation zu wissen glaube. Dass man die kalte, gute Luft ein und die warme, schlechte ausatmet. Dass man tiefer atmet, das Zwerchfell mit einspannt und in Gedanken sinnige Sprüche wiederholt: „Ich bin von innerem Frieden erfüllt. Ich bin eine freie Seele.“
Und tatsächlich, irgendwann kommt der Durchbruch. Ich dämmere weg, in einen süßen, friedvollen Halbschlaf hinein. Warme Wellen wabern um mich her, und unter meinen geschlossenen Lidern scheint die ewige Sonne. Selbst das siebenmalige Schlagen der Turmuhr weckt mich nicht aus meinem meditativen Schlummer. Die mächtigen Schwingungen der Glocke wandern durch meinen federleichten Körper, der ganze, fast tausendjährige Steinbau setzt sich in Bewegung und vibriert, tanzt geschmeidig nach der Glocke Takt.
Als der L. seine Klangschale schlägt, ist die Zeit wie im Flug vergangen. Nach zwei Liedchen und einem finalen Psalm (abwechselnd gesprochen von der Ost- und der Westgruppe) fliegen wir zum Frühstück.


Freitag, 9 Uhr

„Es gibt keinen Zufall, aber alles fällt uns zu“, hat der L. zu Tisch gesagt. Da war ihm eine Salamischeibe von der Gabel direkt auf sein bereits geschmiertes Brot geplumpst. Der erste Film, erzählt er uns nun im Ignatiussaal, habe viele Preise gewonnen. Er heißt „Jesus von Montreal“. Die steinzeitliche Videocassette, die L. aus seiner Ledertasche zieht, passt prima zu den Outfits der Schauspieler: Sie tragen Buntfaltenhosen, boygeorgehaft hochtoupierte Frisuren und schulterbepolsterte Sakkos à la Don Johnson.
„Suchen Sie Gott?“ wird der in ein Buch träumende Hauptdarsteller einmal gefragt.
„Ja“, sagt der, kaum aufblickend.
„Hier haben Sie schonmal ein Brötchen“, schreibe ich das Drehbuch um.
Seine tödliche Verletzung, die ihn zum Märtyrer macht, erleidet der Held während einer Theateraufführung. Vom empörten Bischof angeforderte Polizisten stürmen die Freilichtbühne, der ans Kreuz gebundene Jesusdarsteller stürzt und landet mit dem Kopf genau unter einem der massiven Eichenbalken.
Nach dem Abspann verharren wir im Ignatiussaal minutenlang sprachlos. Jeder aus seinen eigenen Motiven, vermute ich. Als endlich ein gewisser Austausch in Gang kommt, geht es vor allem um die Passionselemente. Der Saarbrücker Sehbehindertenseelsorger bemängelt, dass die Kreuze rechts und links des Helden leer geblieben sind. Stimmt, denke ich, und bei den Monty Pythons haben am Ende sogar alle mitgesungen. Als er insistiert, sämtliche Parallelen zu Jesu Passion seien fehlerhaft und die Inszenierung der Wiederauferstehung als umfassende Organspende geschmacklos, verabschiede ich mich aufs Klo. Ich nehme einen Schluck aus dem eingeschmuggelten Schnapsfläschchen und denke: Oh, dieser Whiskey brennt nach der langen Entbehrung wie Feuer. Aber als ich zum Fenster hochblicke, flackert dort das zur Fratze verzerrte Gesicht des Sehbehindertenseelsorgers.
Entbehrung? Feuer? Da war doch was.


Freitag, 16 Uhr 30

Die Streichhölzer für die Kerzen im Ignatiussaal liegen jetzt unter dem lilafarbenen Bodentuch – eine Initiative des elenden Saarbrückers. Nun kann jeder, der mag, schonmal ein Lichtlein entzünden, bevor die anderen eintrudeln. Wieder lag zwischen zwei Impulstreffen nur eine halbe Stunde. Der L. hat uns angehalten, sie zur Lektüre des Markus-Evangeliums zu nutzen, das im Film wohl eine wichtige Rolle spielte. Ich bin am Ende meiner Kräfte, vor allem der geistig-kommunikativen.
Um den Streifen noch einmal „ein Stückweit tiefer auszuloten“, sollen Kleingruppen à zwei bis drei Personen gebildet werden. Wir sitzen wieder im Kreis, die Duos und Trios entstehen durch Blickkontakt. Die Nüstern der Verbandelten beben ein bisschen, so stolz sind sie auf die neue Seelenverwandtschaft. Mich hat niemand verschwörerisch angesehn, also wende ich mich an meine Nachbarin.
„Tja, dann sind wir wohl die Übriggebliebenen.“
Aber Edith, wie sie sich vorgestellt hat, hebt abwehrend den Arm: „Ich klinke mich da aus.“
Genau genommen ist hier natürlich jeder TOP freiwillig, und die Exerzitienroutiniers ziehen diese Option sehr demonstrativ. Eine Impulssitzung zu schwänzen oder den Meditativen Leibübungen am Nachmittag fernzubleiben zeugt von der Freiheit, die sie sich im engen Korsett unseres Kurses bewahrt haben. Für mich als Novize kommt das jedoch vorerst nicht in Frage.
Es ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit ich mich dem Kreuz unterworfen habe. Beim Plenum vorhin („Treffen wir uns wieder im Ignatiussaal?“ fragte ich den L., obwohl genau das auf der TO steht.) war ihm unser Kreis nicht rund genug. Und kaum hatte er´s ausgesprochen, gab ich ihm recht. Unser Stuhlgebilde wies Lücken auf. Das beschrieb eher ein zerbeultes Oval als einen echten Zirkel. Und die Kerze, Leuchtfeuer unserer gemeinsamen Klosterzeit, wankte hoffnungslos exzentrisch in ihrem Meer aus bunten Tüchern. Also griff ich mir meinen Hocker und positionierte ihn neu. Weil der L. mir kein dankendes Lächeln schenkte, war ich regelrecht niedergeschlagen.
Obwohl ich sie durchschaue, hat mich auch Ediths Ablehnung tief getroffen. Ich bin der Fragezeichenkölner, keiner mag mich. Aber als ich sie endlich öffne, meine tränenverschleierten Augen, sitzt da noch jemand wie nicht abgeholt: Oliver.
Vom Umfang her ähnelt er Bruno, dem er jedoch höchstens bis zum Nabel reicht. Auch sonst verbindet die beiden nicht viel. Es gibt die gemütlichen und die patzigen Dicken. Während Bruno dem ersteren Typ entspricht, gehört Oliver zur zweiten Gruppe. Außerdem ist er faul bis hinter die Ohrläppchen.
„Die ersten Tage hier bin ich immer sehr müde“, hat er während der Begrüßungsrunde erzählt. Eine erstaunliche Feststellung angesichts der Tatsache, dass wir hier nur 72 Stunden zusammensein werden. Ich frage mich, womit dieser Tropf wohl im richtigen Leben seine Brötchen verdient. Als Blauhelm im Krisengebiet? Hauer im chinesischen Bergwerk? Sprecher von Wolfgang Schäuble?
Aber nein, Oliver fährt, im Auftrag einer kirchlichen Organisation, Essen für „bewegungseingeschränkte Senioren“ aus.
„Ich sag ungern ´Essen auf Rädern´, wir liefern schließlich an bis zum Bettrand“, erklärt er und meint damit offenbar: Ich klettere Treppen, Leute!
Damit unser Austausch möglichst fruchtbar werde, legt uns der L. einen Spaziergang ans Herz. Draußen im Schnee wehrt sich Oliver vehement gegen meine zart formulierte Andeutung, der Film sei doch vielleicht auch ein bisschen langweilig gewesen. Im Nebenjob prüft er Filme für den wöchentlichen Kinoabend seiner Pfarrei. Jesus von Montreal, deklamiert er, sei ganz großes Kino und die Komposition der Bilder einzigartig. Dabei habe ich ihn während der Vorführung immer wieder einnicken sehen, den Schlawiner.
Kurz vor dem Waldrand hat er genug von mir. Oliver macht kehrt, zurück gen Kloster.
„Ich brauche jetzt ein bisschen Zeit für mich“, sagt er barsch. Und eilt er mit kurzen, schnellen Schrittchen auf sein Zimmer, um eine neue DVD einzuschmeißen: „Testkucken, für die Pfarrei.“
Sollte ich selbst einmal ein solches Exerzitium leiten, Typen wie Oliver hätten Fernsehverbot.


Freitag, 22 Uhr 30

Das Abendlob in der Klosterkirche haben wir heute weitgehend auf Knien verbracht. Nach 13 Stunden im Dienste des Herrn empfand ich das als ein wenig hart. Aber der L. bestand darauf, und selbst Oliver ist ohne Murren von seinem Stuhl gesunken. Wahrscheinlich war er ohnehin bewusstlos.
Zur Belohnung öffnet der L. uns danach die eisenbeschlagene Pforte der Klosterklause. Der geduckte Raum im Keller des Anwesens entpuppt sich als urig eingerichtete Kellerkneipe. Als Bruno mein Fläschchen Bitburger öffnet, fühle ich mich beinahe wie in meinem Kölner Stammlokal. Nur die Themen sind hier andere.
Im Exerzitienhaus von A gibt es jetzt morgens keine Kaffeekannen mehr auf den Tischen, erzählt Else. Stattdessen holt man sich den Kaffee am Bufett aus der Espressomaschine. Dann sei der zwar wunderbar frisch, aber dafür die Schlange auch manchmal zehn Meter lang.
Mit noch heißeren News aus der sakralen Welt tut sich nach ein paar Schlückchen Bier die gemeine Ich-Klinke-Mich-Aus-Edith hervor: Im Kloster X habe der Pfarrer einen neuen Strahler unterm Kreuz angebracht. In drei Farben, das sehe sehr schön aus, sagt sie. Mit den Benediktinern von Y sei jedoch in letzter Zeit „rein gar nichts mehr los.“ Die Prämonstratenser hingegen, in Z und im Allgemeinen: das sei ein ausgesprochen engagierter Orden.
Ob sie kritisiert oder lobt, stets sucht sie die Augen des Saarbrücker Sehbehindertenseelsorgers. Mit jedem Wort aus ihrem geschürzten Mündchen buhlt sie um seine Gunst, unterstützt von dezenten Korrekturen am Sitz ihres fliederfarbenen Halstuchs.
„Der Pfarrer bei uns daheim“, erzählt sie in ihrem breiten Hessisch, „hat letzten Monat die christliche Begegnungsstätte geschlossen.“
Murrende Empörung im Rund.
„Gerade für die 50- bis 70-Jährigen fehlen jetzt jegliche sozialen Angebote.“
Zustimmendes Nicken, der Seelsorger legt den Kopf schief.
„Der alte Pfarrer, jaaa, der war gut. Der wusste, wie man predigt“, sagt Edith laut und deutlich, bevor sich ihre Stimme auf einen verschwörerischen Ton absenkt: „Aber inzwischen, das darf ich eigentlich gar nicht sagen, gehe ich sogar manchmal (taktische Pause) zu den Evangelen!“
Ein Rumoren hebt an. Für einen Moment fürchte ich um Ediths Leben, das gleich auf dem Scheiterhaufen enden wird. Aber offenbar kennt sie ihre Pappenheimer und weiß, wie man in solchen Runden pokert. Als ich mich umsehe, liegt Staunen, Mitleid und schließlich Anerkennung auf den Gesichtern der anderen. Und der Saarbrücker Sehbehindertenseelsorger geht auf Edith zu und nimmt sie bewegt in die Arme.


Freitag, 23 Uhr 30

„Seid mir nicht bös, ich muss in die Heia“, sagt der dicke Bruno. Dabei stehen wir schon alle, und er sitzt allein vor seinem vierten Weizen.


Dritter Tag

Samstag, 11 Uhr 45

Die Impuls-Frage nach dem heutigen Spielfilm lautet: Auferstehung im Film - Auferstehung in der eigenen Biographie. Wie hast du selbst deine Aufbrüche erlebt? Was schwingt bis heute nach?
Der gestrige Schluck Whiskey und die beiden Bierchen in der Klosterklause hatten mich außerordentlich belebt. Die Welt schien mir plötzlich verändert. Als habe ihr etwas gefehlt, ein bestimmtes Vitamin. Ich habe zu nachtschlafender Zeit auf einem elenden Holzhocker meditiert, habe auf einer Gummimatte liegend meinen linken kleinen Zeh fokussiert und abends auf Knien Bittgebete gesprochen. Der Herr ruhte erst am Siebten Tag, ich weiß. Aber wäre es nicht anmaßend, sich mit Gott zu vergleichen?
Ganz allmählich reift in mir der Entschluss, mich auch einmal ganz edithmäßig auszuklinken. Vier Kilometer sind es bis Kyllburg, meiner zweiten Heimat, wo die Bahnhofskneipe auch tagsüber geöffnet hat. Auch dort sitzt man auf Hockern, aber dabei stützt man sich bequem auf einen breiten Tresen. Nicht dass ich meine Zelte im Kloster ganz abbrechen möchte. Aber ich verspreche mir einen reinkarnierenden Impuls von dieser Stippvisite. Wie hieß es doch im Markus-Evangelium über Jesu Heilung eines Taubstummen: „Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel.“
Seine Finger seien die In-Ear-Stöpsel meines Handys, sein Speichel der heilige Gerstensaft der Eifel.
Auf nach Kyllburg!


Samstag, 14 Uhr

Aus einer Sentimentalität heraus habe ich Oliver gefragt, ob er mitkommen möchte. Schon sehe ich uns am Kyllburger Tresen sitzen und über Juliette Binoches Beine diskutieren, die unsere heutige Filmvorführung veredelten. Aber mit Oliver stiehlt man keine Äpfel und baut man keine Hütte.
„Ich lege mich noch was aufs Ohr“, sagt er nach den beiden Schnitzeln und dem Teller Bratkartoffeln.
Mein Plan ist dennoch unumstößlich. Den zweiten Impuls will ich ebenso sausenlassen wie die Leibübungen auf den Entspannungsmatten. Also bleiben mir vier Stunden Zeit bis zum gemeinsamen Abendessen. Vier Stunden minus zwei für den Hin- und Rückweg macht zwei Stunden netto am Tresen. Das sollte reichen für eine feuchtfröhliche Generalüberholung.
Aber der zugeschneite Pfad entlang des Flusses hat es in sich. Unter den Schneewehen liegt eine Eisschicht, die jeden Schritt zur Strapaze macht. Dass ich die Musik auf volle Lautstärke gestellt habe, schwächt zudem meinen Gleichgewichtssinn. Aber ich vertraue auf Gott, wie offenbar alles inzwischen religiös konnotiert ist für mich. Warum heißt dieser Ort, zu dem es links abgeht, ausgerechnet Bruderholz? Und was singen die da, diese Popstars? „Oh Lord“, hebt Johnny Cash an. „Losing my religion“, jaulen R.E.M. Und wer, in Gottes Namen, hat mir die verdammten Desmond-Decker-Israelites auf den Speicher gebeamt?
Erst Janis Joplin, die den Lord dreist um einen Mercedes Benz angeht, bringt mich wieder in die Spur. Und dann bin ich auch schon auf dem Highway to Hell, die Bäume erzittern und der Schnee schmilzt im Höllenfeuer meiner T.N.T. zündenden Schritte. Oder wie es das Evangelium nach Bon Scott ausdrückt: „Lock up your daughter/ Lock up your wife/ Lock up your back door/ And run for your life/ The man is back in town.”


Samstag, 15 Uhr

Im Ignatiussaal sitzen sie jetzt zwischen Duftkerzen und Räucherstäbchen. In der Kyllburger Bahnhofskneipe hingegen qualmen die Kippen. Ein nikotingesättigtes Wolkenmeer umfängt mich, die Schwaden wabern so dicht wie die Nebel von Avalon. – Herrlich!
An der Theke setze ich mich neben einen alten Kerl, Typ Braungebrannter Hagestolz. Er empfiehlt mir, Flaschenbier zu trinken.
„Die zapfen hier noch echte Sieben-Minuten-Pilse, da wirst du nie satt von.“
Danach erzählt er der kleinen Runde, er sei jetzt am gesamten Körper rasiert: „Weil meine Freundin findet, dass mein Gemächt dann mächtiger wirkt.“
„Die aus Prüm oder die aus Bitburg?“ wirft einer ein.
„Nee, die aus Bitburg“, sagt er. „Die aus Prüm sieht ja nicht mehr so gut.“


Vierter Tag

Sonntag, 7 Uhr 30

Der gestrige Ausflug hat mir zugesetzt. Als der Wecker kurz nach 6 zur Morgenmeditation klingelte, habe ich ihn mit der blinden Wut eines Gotteskriegers abgewürgt. Als ich zum Frühstücksraum schlurfe, riecht es durchdringend nach dem feuchtheißen Dampf der Spülmaschinen. Ich brauche jetzt etwas extrem Gesundes, sage ich mir. Also pflücke ich die hindrapierten Petersilienstrünke vom Bufett, bis mein Teller aussieht wie eine Karnevalsperücke. Aber das Kraut tut seine Wirkung, bald geht es mir ein wenig besser.
Zum Abschluss unserer Exerzitien wollen wir eine gemeinsame Messe feiern, kündigt der L. an. Die Leitung soll der Saarbrücker Sehbehindertenseelsorger übernehmen, der aus irgendeinem Grund dafür qualifiziert zu sein scheint. Edith und er sind jetzt ein Paar. Aus Gesprächen weiß ich, dass meine Gefährten sehr stolz sind auf die Liaison.
„Es fühlt sich so an“, sagt Else, „als sei diese Liebe aus unserem Kreis heraus erwachsen.“


Sonntag, 10 Uhr

Immer wieder diese Anfängerfehler. Der L. hat den Klingelbeutel ausgepackt, „für den Erhalt von St. Thomas.“ Überall klimpert es im Körbchen, das sich mir bedrohlich nähert. Denn ich habe keinen müden Cent mehr, man könnte sagen: Ich habe all mein Geld versoffen gestern. Verzweifelt wühle ich in meiner Hosentasche und tue dann so, als hätte ich etwas gefunden. Aber Oliver, der mir den Kollektenkorb weiterreicht, durchschaut mein erbärmliches Manöver. Als ich die geschlossene Hand im Kleingeld versenke und ein bisschen darin wühle, verengen sich seine ohnehin schmalen Fettwanstaugen zu einem Schlitz. Er kann hier keinen Aufstand machen und mich bloßstellen, das ist ihm klar. Aber solch ein Maß an Schäbigkeit hat er nicht mehr erlebt, seit Judas den Herrn verriet.
Der Sehbehindertenseelsorger hat unterdessen seine Bongos zwischen die Beine geklemmt und ein Lied angestimmt. Wenn er singt, legt er den Kopf in den Nacken und schließt die Augen. Mit dem ersten Ton verfällt sein Oberkörper in ein ekstatisches, in mancher Hinsicht unappetitliches Zucken. Aber gut, die Sehbehinderten wird das nicht stören.
Unweigerlich werden wir gleich wieder auf die Knie gehen müssen, für was auch immer. Die halbe Hausrenovierung habe ich knieend erledigt, und unsere Abendlob-Sessions haben mir den Rest gegeben. Meine Kniescheiben zerbröseln mit jedem weiteren Bodenkontakt wie Zwieback. Mein ganzer Körper sträubt sich mittlerweile lange im Vorhinein gegen diese Verrichtung. Aber seit der Nummer mit dem Klingelbeutel habe ich ohnehin nichts mehr zu verlieren. Als es soweit ist, täusche ich eine kleine Schwäche vor, kühme, reibe mir die Augen und stütze die Unterarme auf die Knie, um die anderen nicht allzu auffällig zu überragen. Oliver stupst mich erbost an, aber die Bongos übertönen sein Stöhnen.


Sonntag, 10 Uhr 40

Die Messe neigt sich dem Ende zu. Auf den Oblatenteller folgt der Weinkelch.
„Trinken sollt ihr, nicht nippen“ ermutigt uns der L., „das sind die Worte des Herrn.“
So ein kräftiger Schluck Weißwein des Morgens kann nichts schaden, sage ich mir und lange ordentlich zu. Der süße Saft kühlt meine vom Kyllburger Kippenqualm entzündete Kehle und wärmt mir die Eingeweide. Derart belebt, wird auch der „Rollende Gruß“ zu einem Kinderspiel: Hintereinanderweg legt Jeder Jedem die Hände auf die Schultern und gibt ihm – stumm oder mit frommen Worten – seinen Segen für die Zukunft. Allen ist klar: Dies ist unsere vorweggenommene Verabschiedung.
Zu Edith sage ich: „Gott sei mit dir“, und komme mir dabei ein bisschen scheinheilig vor. Oliver legt mir seine schlaffen Wurstfinger auf und schenkt mir einen Blick, der nicht nur Hopfen und Malz verloren gibt. Else und der L. hingegen wirken ehrlich bewegt. Und der dicke Bruno hat sogar ein Tränchen im Auge, das mir beinahe einen Ableger ins Gesicht pflanzt.
Sollten wir uns irgendwann im Leben wiedersehen, lade ich ihn auf ein Brötchen mit Milch ein.



Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Kölner Gespräche (43): Claus Kreß, Völkerrechtler an der Uni Köln

Claus Kreß wurde 1966 in Köln geboren. Nach dem Abitur am Hildegard-von-Bingen-Gymnasium begann er ein Jurastudium. Auf die Promotion 1994 folgte 2004 die Habilitation.
Von 1996 bis 2000 war er als Beamter im Bundesministerium der Justiz tätig. 1998 war er Mitglied der deutschen Delegation bei der Staatenkonferenz in Rom zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes. Ende 2004 übernahm er den Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Köln. Dort fungiert er seit 2012 als ordentlicher Professor und Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht. Er gilt als internationaler Fachmann für Völkerrechtsfragen.
Claus Kreß lebt mit seiner Frau und den beiden Kindern in Rondorf.

Es ist ein langer, gewundener Weg vom Erfrischungsraum im Hauptgebäude der Uni Köln bis ins versteckte Büro des Völkerrechtlers Claus Kreß. Und der Professor verspätet sich leicht: 300 Erstsemester haben gerade seiner Vorlesung gelauscht, und er hatte noch viele Fragen zu beantworten.

Sind Sie zur Zeit ein gefragter Mann?

Bedauerlicherweise ja. Nach dem Terror in Frankreich haben die Anfragen seitens der Presse noch einmal zugenommen. Viele Fragen sind nicht neu, sie werden schon seit dem 11. September 2001 intensiv diskutiert.

Welche Fragen sind das?

Vor allem will man wissen, was es bedeutet, wenn heutzutage von „Krieg“ gesprochen wird. Das Wort ist aus dem Jargon der Politiker - und auch der Journalisten - nicht herauszukriegen.

Wie meinen Sie das?

Seine Bedeutung als Völkerrechtsbegriff hat „Krieg“ fast vollständig verloren. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war das anders. Da gab es ein Kriegsrecht, um die mit dem Kampf zwischen Staaten verbundenen Leiden zu begrenzen. Und 1928 vereinbarte man das Verbot des Kriegs als Mittel nationaler Politik.

Welche Begriffe haben „Krieg“ heute ersetzt?

Präzisere, objektivierbarere. Das Kriegsverbot wurde durch das schärfere Verbot ersetzt, militärische Gewalt anzuwenden. Und sind Kämpfe dennoch ausgebrochen, sprechen wir inzwischen von einem „internationalen bewaffneten Konflikt“.

Hier in Ihrem Büro hängt ein Geißbock-Bild. Von „Krieg“ spricht man heute schon, wenn der FC gegen Gladbach spielt.

Genau, das Wort ist eine Allzweckwaffe geworden für Leute, die rhetorisch mit kräftigen Farben malen wollen. Ich verstehe durchaus, dass Politiker und Journalisten gelegentlich diesen Wunsch verspüren.

Wie trennen Sie nüchterne Analyse, Ihre Meinungen und Ihre persönlichen Sorgen.

Nach letzterem werde ich zum Glück nur selten gefragt, zumal ich in dieser Hinsicht nicht kompetenter bin als irgendeiner meiner Mitbürger.

Andersherum heißt das, Sie halten Ihre Einschätzungen zu diesem oder jenem Konflikt für unbedingt objektiv?

Sie dürfen jedenfalls nicht juristisch falsch sein. Und ich darf keinesfalls auf medialen Wellen mitschwimmen, die fachliche Präzision muss immer Vorrang haben. Aber wenn ich mit der Presse spreche, muss das natürlich auch verständlich geschehen. Das ist zuweilen eine Gratwanderung.

Sie gelten als Experte für das völkerrechtliche Gewaltverbot. Was ist damit gemeint?

Das ist eine der wichtigsten Normen der internationalen Rechtsordnung. Es geht um das grundsätzliche Verbot für alle Staaten dieser Welt, militärische Gewalt gegen andere Staaten auszuüben.

Das Völkerrecht, die Menschenrechte, nationale Verfassungen und Gesetze bilden ein sehr komplexes, für den Normalbürger kaum zu überschauendes Feld.

Allerdings, zumal es zwischen nationaler und internationaler Rechtsordnung gewichtige Unterschiede geben kann. Denken Sie an Auslandseinsätze deutscher Soldaten: Unsere Verfassung setzt da engere Grenzen als das internationale Recht.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir unsere laufende militärische Ausbildungshilfe im Irak: Völkerrechtlich ist diese völlig unproblematisch. Schließlich hat die Regierung des Irak dem zugestimmt. Nach unserer deutschen Verfassung jedoch ist dies ein hochproblematischer Fall, bei dem die Bundesregierung sich mit ihrer Begründung auf unsicherem Gelände bewegt.

Die meisten zwischenmenschlichen Kontakte folgen ungeschriebenen Gesetzen. Wie spielt das ins Völkerrecht?

Das ist von enormer Bedeutung. Bedenken Sie: Die völkerrechtlichen Institutionen sind global noch recht schwach ausgebildet. Wir haben zum Beispiel keinen Weltgesetzgeber, internationale Gerichte tagen seltener als nationale. Gerade im Völkerrecht der Friedenssicherung gibt es nur wenig niedergeschriebenes Recht. Umso wichtiger ist das tatsächliche Verhalten der Staaten.

Wie vermitteln Sie das Ihren Studenten?

Indem ich mit ihnen nicht nur die wenigen Rechtstexte betrachte, sondern auch die internationalen Konflikte genau studiere. Erst wer sich etwa die Kuba-Krise genau anschaut, bekommt einen lebendigen Einblick vom Recht der internationalen Beziehungen.

Es geht auf Weihnachten zu, das den Christen als „Fest des Friedens“ gilt. Ist das eine Norm, ein ungeschriebenes Gesetz, womöglich ein Völkerrecht?

Der Frieden ist ein zentraler Wert der internationalen Rechtsordnung, er steht in der UNO-Charta nicht umsonst ganz oben. „Künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, das war im Juni 1945 in San Franzisko das Ziel.

Von der UNO-Charta zur kölschen Ethik, die da besagt: Jede Jeck es anders, Jeck loss Jeck elans. Können Sie als Völkerrechtler damit etwas anfangen?

Oh ja! Diese kölsche Mentalität, dem anderen nicht zu sehr hineinzuregieren, das Andersartige auszuhalten, ist für das Völkerrecht eine zentrale Tugend. Die Bauherren des Völkerrechts sind derzeit rund 200 Staaten, die im Innern zum Teil ganz unterschiedlich strukturiert sind. Und selbst wenn wir manchmal staunen, wie jeck die anderen sind: Völkerrechtlich gilt das Interventionsverbot.

Sie haben in Genf, Cambridge und New York gewirkt. Warum sind Sie wieder in Köln gelandet?

Ich hatte Riesenglück, denn für einen Wissenschaftler ist es sehr ungewöhnlich, an seinem Heimatort arbeiten zu dürfen. Ich reise sehr gern, aber noch lieber komme ich nach Köln zurück.

Gibt es dafür irgendeinen vernünftigen Grund?

(lacht) Jetzt muss ich doch subjektiv werden. Sagen wir so: Ich gehöre einer kölschen Familie an, die beim Anblick der Domspitzen nach einem Urlaub feuchte Augen bekommt. Rational kann ich Ihnen das nicht erklären. Aber ich mag einfach dieses bereits angesprochene kölsche Laissez-faire genauso wie die FC-Hymne und die Tatsache, dass man hier in einer Kneipe nicht lange allein steht.

Mittwoch, 2. Dezember 2015

Thekentänzer (94)

Süß wie Abiturientensperma

„Ich hab den richtiggehend kennengelernt“, sagt Arno.
„´Richtigehend kennengelernt´: Wie du dich immer
ausdrückst!“

„Das war ein ganz beschissener Tag gewesen.
Und du weißt ja, dass ich
HIV-positiv bin. Da will man keine
beschissenen Tage.“

„Weiß ich ja, ja klar.“

„Na also. Geh ich also
so um 12 zum Büdchen, weil ich
n Gedicht schreiben will.“

„N Gedicht.“

„Genau, hol ich mir n
schönes
süßes
Reissdorf vom Büdchen und
schreib n Gedicht.“

„Reissdorf is süß?“

„Wie Abiturientensperma.“

 Jeder drückt sich anders aus


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