Mittwoch, 24. Februar 2010

Momentaufnahmen (9)

„Gib Schutzgeld, Schlitzauge!“

Kneipe, Altstadt
An der Theke sitzt ein Mann und blättert im Express. Es treten ein: drei junge Schwarze. Sie sprechen den Mann an, fragen etwas. Er antwortet freundlich, macht offenbar einen kleinen Witz und dreht sich lachend wieder zu seiner Zeitung. Die drei Jungen setzen sich an einen Tisch hinter ihm. Die Kellnerin verlangt nach ihren Ausweisen, kontrolliert, ob sie 18 sind und bringt ihnen sodann drei Bier. Der Mann an der Theke, weiter lesend, greift hinter sich, fingert sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und steckt es vorn ins Jackett.

Kneipe, Nordstadt
Völlig verschädelter Gast: „Du lässt ja nur weiße Musik laufen.“
Kellner: „Hä?“
Völlig verschädelter Gast: „Muss ich mir Sorgen um dich machen?“

Carl-Schurz-Platz, Liblar
Carl Schurz, 1829 geboren in Liblar, emigrierte nach seiner Teilnahme an der 1848er-Revolution in die USA und wurde dort ein angesehener Geschäftsmann und hochrangiger Politiker. Auf dem nach ihm benannten Platz in seinem Heimatort steht am 19. Februar 2010 ein Verkaufskasten der BILD-Zeitung. Schlagzeile: „Warum kriegen Migranten häufiger Hartz IV als Deutsche?“

Asia-Imbiss, Studentenviertel
Türkischer Express-Mann zum Asia-Griller beim Herüberreichen der Zeitung: „Gib Schutzgeld, Schlitzauge!“

Linie 12, Ringe
Mann 1: „Kölsch klingt viel netter wie Hochdeutsch.“
Mann 2: „Jenau, Fisternöll statt Seitensprung. Oder womöschlich Liebschaft, oweiowei.“
Mann 1: „Oder Schwätzer, dat is doch richtig hart. Aber dann eben: Schwadlappen, so einen mag man doch tirek.“
Mann 2: „Jenau, un ene Nasse Sack es ene Jeck im Rään.“


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Mittwoch, 17. Februar 2010

Fundstücke (2)

Erftstadt ist groß

Erftstadt ist groß, sogar sehr groß. Keine Kommune im Rhein-Erft-Kreis kann diese Zahlen aufweisen. Exakt 119,88 Quadratkilometer ist die südlichste Stadt im Kreisgebiet groß. Die Fläche zwischen Gymnich und Kierdorf im Norden, sowie Borr und Niederberg im Süden, ist sehr stark landwirtschaftlich geprägt.
(www.erftstadt.de, Menüpunkt „Unser Erftstadt“)

Jedoch haben die Friesheimer einen ausgeprägten historischen Sinn. Sie sind stolz auf ihren Ort und ihre Burgen. Die Katasterkarte von 1810, die sieben wasserumwehrten Burgen und drei weitere größere Adelshöfe ausweist, lässt vermuten, dass das Domkapitel den ungeheuren Besitz des Grafen Emundus aufgeteilt und mehrere Ritter damit belehnt hat, damit sie Friesheim bei einem etwaigen Angriff verteidigen sollten. Im 12. Jahrhundert galt es für einen Ritter, eine standesgemäße Burg zu besitzen, und daraus erklärt sich für Friesheim die Vielzahl von acht Burgen.
(Karl Stommel: Erftstadt. Die heutigen Stadtteile im Wandel der Zeiten. Eine historische Dokumentation herausgegeben aus Anlass der 700-Jahr-Feier der Stadtrechtsverleihung an die Stadt Lechenich am 14. September 1279)

Plätze sind größere freie Flächen für bestimmte Zwecke wie Veranstaltungen und Versammlungen. In der Regel sind sie mit dem örtlichen Straßennetz verbunden. Beispiele: Kirmes-, Schieß-, Sport-, Ritt- und Parkplatz. Auf den Plätzen spielt sich das gesellschaftliche Leben eines Ortes gleichsam in herausragender Form ab. Die Gymnicher Plätze erfüllen alle die genannten Zwecke.
(Matthias Weber: Heimatbuch Erftstadt-Gymnich, S. 128)

Vor der Strohpresse (1926): Zum Zusammenbinden der Ballen wurde Draht benutzt: Ein Arbeiter schob eine Gabel durch, deren beide Zinken mit Rillen versehen waren, durch die von der anderen Seite her der Draht geschoben werden konnte. (...) Eine besonders mühsame Arbeit bestand darin, das Kurzstroh zu sammeln und in die Presse zu befördern. Diese Aufgabe wurde meist Frauen übertragen.
(Rainer Strätz: Erp in alten Ansichten, Nr. 22)


Die Schuhfabrik Hütten und ihre russischen Kriegsgefangenen um 1916 (ebenfalls aus: Erp in alten Ansichten)


Mehr als zweieinhalb Stunden, bevor der Rosenmontagszug zu erwarten war, mussten Stephanie Will (24) und ihre 23 Freunde von der KG Sievernich-Erp ihre Sitzplätze einnehmen. Das war um 11 Uhr, und eine gute Stunde später war die Referendarin im Zebrakostüm gar nicht mehr sicher, dass die 64,50 Euro für den Sitzplatz gut angelegt waren. „Obwohl wir pünktlich da sein sollten, sind etliche Plätze leer.“
(Kölnische Rundschau vom 16. Februar 2010, S. 30)


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Mittwoch, 10. Februar 2010

Fundstücke (1)

Liebe als Problem

Nach heutigem Verständnis hatte Publius Horatius ein Tötungsdelikt begangen, und zwar an einer nahen Verwandten, seiner Schwester. (...) Es war nach römischem Recht ein besonders schweres Verbrechen, das eine besondere Strafe nach sich zog: Der Täter wurde gesäckt, das heißt, mit unreinem Getier - meist werden Affe und Schlange genannt - in einen Ledersack genäht und in den Fluss oder ins Meer geworfen.
(Detlef Liebs: Vor den Richtern Roms. Berühmte Prozesse der Antike, S. 17)

Die Theorie gesellschaftlicher Evolution und die These, dass durch Änderung des Differenzierungstypus der Gesellschaft die Komplexität des Gesellschaftssystems sprunghaft zunimmt, lassen demnach vermuten, dass die Kommunikationsprozesse der Gesellschaft einer solchen Entwicklung folgen und ein anderes, zugleich generelleres und spezielleres Kombinationsniveau von Selektion und Motivation suchen werden. Liebe beispielsweise wird gegen alle Tradition, die sie als gesellschaftliche Solidarität schlechthin in Anspruch genommen hatte, jetzt als unbegründbar und als persönlich deklariert: „Par ce que c´estoit luy; par ce que c´estoit moi“, wie es in der berühmten Formulierung Montaignes heißt.
(Niklas Luhmann: Liebe als Passion, S. 22)

„Geh weg!“ schrie sie und stieß ihn mit dem Ellbogen so heftig gegen das Nasenbein, dass ihm Sterne vor den Augen tanzten.
Der Schmerz in der Nase ging bald vorüber, die Qual aber nahm und nahm kein Ende.
(Anton Tschechov: Die Hexe, in: Die Dame mit dem Hündchen. Erzählungen, S. 19)

Hexen sollen verbrannt werden, auch wenn sie keinen Schaden anrichten, allein weil sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben. Wenn du solche Frauen siehst, so kannst du sie an ihrem teuflischen Verhalten erkennen. Deswegen sind sie zu töten.
(Martin Luther im Jahr 1526, zitiert nach: Olaf Link: Hexenglauben im Bergischen Land, S. 39)

„Du!“ fährt Aleta ihren Gemahl an. Nach einer Minute eisigen Schweigens fährt sie fort: „Ich habe genug ertragen. Jetzt will ich dich ein Jahr lang an meiner Seite haben. Mit meiner Familie. Und keine Ausreden!“
(John Cullen Murphy: Prinz Eisenherz, Band 54, S. 33)


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Mittwoch, 3. Februar 2010

Straßenkämpfer (10)

Das Gegenteil von Angst

Vorm McDonalds am Barbarossaplatz die Bodenplatten zählen. Wie schafft man es, dies wirklich unauffällig zu tun, denkt er, und dann: Als wenn mich hier jemand beachten würde. Also legt er los, will er loslegen, aber direkt die erste Reihe, die an der Glasfront entlang, besteht aus halbierten Platten. Er entscheidet sich dafür, zwei halbe für eine ganze zu nehmen, und zählt 35 bis zur Ecke. Die letzte halbe Platte dort steht jedoch etwa um die Hälfte über, sehr ärgerlich ist das. 35 Halbe plus ein Viertel, sein vorläufiges Ergebnis, und schon so krumm. So unsauber, er kramt seinen Block und den Stift aus der Brusttasche, beschließt, sich die Zahl zu notieren und noch einmal bei 1 anzufangen. Zur Kontrolle zählt er auch die zweite Reihe noch einmal ganz durch, kommt wieder auf 35 plus Überstand. Damit kann er umgehen. Sämtliche Reihen bis zum Bordstein kann er von seiner Position aus, dort am Fenster, nicht übersehen. Es ist 9 Uhr abends, der Gehweg voll mit Menschen. Also schreitet er sie ab, die Reihen, gelangt an die Straße und ist glücklich. Er kommt auf eine gerade Zahl, das bedeutet, die Halbsteine an den Enden gehen in eine ganze Zahl auf. Und ist deprimiert im nächsten Moment, als ihm die notierte erste Reihe einfällt. 18 mal 35 plus 9 mal ½ plus jene 35 Halben plus ¼. Im Vorhinein hatte er sich gefreut auf die Multiplikation nach dem Auszählen, aber nun lässt er es ganz bleiben. Das taugt nichts, was da herauskommt, das taugt gar nichts.
Der Tag ist gelaufen, denkt er, es überkommt ihn eine große Angst. Sie beginnt im Nacken und wandert in seinen Bauch. Ins Zwerchfell, sagt er sich, da sitzt das Alles. Die große Konsequenz hieße: ins Bett zu gehen. Aber die Angst ist stärker. Sie muss betäubt werden. Für die Woche, für die nächsten beiden Tage plus heute Abend, also für die nächsten 2,25 Einheiten bleiben ihm 5 Euro 71, das ist reichlich. Er kennt den Supermarkt, der jetzt noch geöffnet ist, er kennt die Preise, den Preis für einen Liter Gesöff. Die Angst ist so groß, dass sie, einmal betäubt, sich in eine Betäubung verwandeln wird. Er weiß, dass ihn dieser Liter in den Schlaf bringen wird, auch wenn er zu einem echten Rausch nicht taugt. Aber betäuben wird er ihn, mit Hilfe der großen Angst. Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut, sondern Taubheit.


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