Mittwoch, 15. Juni 2011

Geschichten aus 1111 Nächten (7)

Anton und die Spargelstecherin

Anton fühlte sich einsam und wohl auch ein wenig brünftig, also beschloss er, sich eine Frau fürs Leben zu suchen. Kurz hinter Birkesdorf traf er auf eine junge Spargelstecherin namens Ursula, verliebte sich in sie und bat sie an Ort und Stelle um ihre Hand.
Aber Ursula antwortete: „Anton, du kennst die Wahrheit nicht. Finde sie, komm zurück, und dann will ich dich heiraten.“
Sofort machte sich Anton auf den Weg. Er suchte in Feldern und Wäldern, an Flüssen und Bächen und begegnete furchteinflößenden Menschen. Überall jedoch nahm er seinen Mut zusammen und fragte: „Habt ihr die Wahrheit gesehen? Wisst ihr, wo ich sie finden kann?“
Und überall lautete die Antwort: „Nein.“
Sicher, früher, die Alten! Die hatten sie noch gekannt, die Wahrheit. Aber die Wahrheit ist ein scheues Reh, ihre Bekanntschaft war den Menschen abhanden gekommen. Wie so Vieles. Also hetzte er weiter, der Anton, von Dorf zu Dorf und von Weiler zu Weiler, bis er in die Gegend von Mönchengladbach gelangte. Dort, in der Höhle eines kleinen Berges, setzte er sich zu Tode erschöpft nieder.
Alt war er geworden über seine schier endlose Suche, weißhaarig und ausgezehrt. Der Aufgabe nahe, hörte er plötzlich ein schleppendes, scharrendes Geräusch aus den Tiefen des Verlieses. Anton schüttelte sich vor Grauen, und im nächsten Moment stand ein altes, ungemein hässliches Weib vor ihm. Schrecklicher Gestank ging von diesem Wesen aus, furchtbare Geschwüre bedeckten seinen Körper. Mit allergrößter Mühe hob die Frau ihre triefenden Augen und fragte nach Antons Begehr.
„Ich suche die Wahrheit“, sagte er.
„Du sitzt vor ihr“, antwortete das Weib.
„Du sollst die Wahrheit sein?“
„Ja.“
„Kannst du das beweisen?“
Die Wahrheit nannte ihm Beweise: Seinen Namen, sein Alter, sein Muttermal an der rechten Wade, seine Torquote in der D-Jugend von Fortuna Köln. Dann zückte sie ein Foto der schönen Ursula, seiner geliebten Spargelstecherin. Anton war überzeugt.
„Bin ich der erste, der dich fand?“
„Ja, du bist der erste“, antwortete das Weib.
„Dann bin ich der glücklichste Mann auf Erden“, seufzte er. „Ich werde meine göttliche Ursula über die Schwelle tragen, und ich werde allen Menschen von der Wahrheit erzählen.“
„Nein“, sagte das Weib, „erzähle ihnen nichts.“
„Aber jeder will dich kennenlernen! Du bist schließlich die Wahrheit! Was also soll ich ihnen sagen von dir?“
Da antwortete das furchbare Weib dem Anton:
„So sage ihnen, dass ich jung und schön bin.“


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