Mittwoch, 3. Februar 2010

Straßenkämpfer (10)

Das Gegenteil von Angst

Vorm McDonalds am Barbarossaplatz die Bodenplatten zählen. Wie schafft man es, dies wirklich unauffällig zu tun, denkt er, und dann: Als wenn mich hier jemand beachten würde. Also legt er los, will er loslegen, aber direkt die erste Reihe, die an der Glasfront entlang, besteht aus halbierten Platten. Er entscheidet sich dafür, zwei halbe für eine ganze zu nehmen, und zählt 35 bis zur Ecke. Die letzte halbe Platte dort steht jedoch etwa um die Hälfte über, sehr ärgerlich ist das. 35 Halbe plus ein Viertel, sein vorläufiges Ergebnis, und schon so krumm. So unsauber, er kramt seinen Block und den Stift aus der Brusttasche, beschließt, sich die Zahl zu notieren und noch einmal bei 1 anzufangen. Zur Kontrolle zählt er auch die zweite Reihe noch einmal ganz durch, kommt wieder auf 35 plus Überstand. Damit kann er umgehen. Sämtliche Reihen bis zum Bordstein kann er von seiner Position aus, dort am Fenster, nicht übersehen. Es ist 9 Uhr abends, der Gehweg voll mit Menschen. Also schreitet er sie ab, die Reihen, gelangt an die Straße und ist glücklich. Er kommt auf eine gerade Zahl, das bedeutet, die Halbsteine an den Enden gehen in eine ganze Zahl auf. Und ist deprimiert im nächsten Moment, als ihm die notierte erste Reihe einfällt. 18 mal 35 plus 9 mal ½ plus jene 35 Halben plus ¼. Im Vorhinein hatte er sich gefreut auf die Multiplikation nach dem Auszählen, aber nun lässt er es ganz bleiben. Das taugt nichts, was da herauskommt, das taugt gar nichts.
Der Tag ist gelaufen, denkt er, es überkommt ihn eine große Angst. Sie beginnt im Nacken und wandert in seinen Bauch. Ins Zwerchfell, sagt er sich, da sitzt das Alles. Die große Konsequenz hieße: ins Bett zu gehen. Aber die Angst ist stärker. Sie muss betäubt werden. Für die Woche, für die nächsten beiden Tage plus heute Abend, also für die nächsten 2,25 Einheiten bleiben ihm 5 Euro 71, das ist reichlich. Er kennt den Supermarkt, der jetzt noch geöffnet ist, er kennt die Preise, den Preis für einen Liter Gesöff. Die Angst ist so groß, dass sie, einmal betäubt, sich in eine Betäubung verwandeln wird. Er weiß, dass ihn dieser Liter in den Schlaf bringen wird, auch wenn er zu einem echten Rausch nicht taugt. Aber betäuben wird er ihn, mit Hilfe der großen Angst. Das Gegenteil von Angst ist nicht Mut, sondern Taubheit.


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