Mittwoch, 20. November 2013

Geschichten aus 1111 Nächten (45)

Die weiße und die schwarze Kuh

Ein ruhiger, schweigsamer Eifelbauer hütete zwei Kühe, die auf einer Wiese grasten, und tat nichts anderes. Da kam ein Städter des Wegs, setzte sich neben ihn, schwieg anstandshalber einen Moment und fragte dann:
„Fressen die Kühe gut?“
„Welche von beiden?“ entgegnete der Eifelbauer.
Da sagte der Städter, leicht aus der Fassung gebracht: „Die weiße.“
„Die weiße: ja“, antwortete der Bauer.
„Und die schwarze?“
„Die schwarze auch.“
Nach diesem ersten Wortwechsel schwiegen die beiden Männer eine ganze Weile und betrachteten die Hügel und das Dorf. Irgendwann jedoch wurde der Städter unruhig und fragte:
„Und geben sie viel Milch?“
„Welche von beiden?“ sagte der Bauer.
„Die weiße.“
„Die weiße: ja.“
„Und die schwarze?“
„Die schwarze auch.“
Wieder folgte eine lange Pause. Die Männer blickten sich nicht an, sondern lauschten dem Bach und den grasenden Kühen. Aber dann unterbrach der Städter die Stille:
„Warum fragst du mich eigentlich immer: ´Welche von beiden?´“
„Weil“, antwortete der Bauer, „die weiße mir gehört.“
„Ach so“, entfuhr es dem Städter. Als er jedoch über diese Entgegnung nachdachte, wurde ihm ein wenig mulmig. Mit banger Vorahnung rang er sich schließlich zu einer letzten Frage durch:
„Und die schwarze? Gehört die auch dir?“
„Die schwarze auch.“


P.S.: Wer tiefer in die Gedankengänge des weisen Eifelbauern eindringen möchte, möge sich auch mit folgenden berühmten Fragen beschäftigen:
Welche Hand macht welches Geräusch, wenn zwei Hände gegeneinanderklatschen?
Was ist der Unterschied zwischen einem Raben?
Wie alt war Rimbaud?

Wie alt war Rimbaud?

Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

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