Mittwoch, 28. Oktober 2015

Geschichten aus 1111 Nächten (62)


Die löchrige Kanne

Viele Jahre lang lebte der heilige Willy als Eremit in einer abgelegenen Eifelhöhle. Tag für Tag nahm er seine beiden Krüge und machte sich auf den langen, beschwerlichen Weg ins Dorf. Dort ließ er die Behältnisse mit frischem Bier füllen - der einzige Luxus, den er sich während all der Zeit gönnte.

Nun wies die rechte Kanne von Beginn an ein Loch auf, sodass sie stets bereits halbleer war, wenn der Willy wieder in seiner Birresborner Eishöhle anlangte. Eines Tages wurde er von einem alten Waldschrat darauf angesprochen: „So sag mir doch, heiliger Willy, warum schleppst du dieses edle Bier, nur um es im Boden versickern zu lassen?“

Willy wunderte sich ein wenig über die Frage des Schrats. Dann nahm er einen langen Schluck aus der heilen Kanne und antwortete: „Hast du dir einmal die rechte Seite meines Weges angesehen, die alltäglich beträufelt wird? Dort wachsen die allerschönsten Blümchen, ernährt von Bierhefe und Gerstenmalz. Und diesen erbaulichen Anblick habe ich nur der alten, löchrigen Kanne zu verdanken.“

„Ich verstehe“, sagte der Waldschrat und machte sich vom Acker.


Trockene Gegend



Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

Keine Kommentare: