Mittwoch, 9. Februar 2011

Straßenkämpfer (16)

Komm bald wieder, Junge!

Die ganze Hinfahrt über freute er sich auf diesen ersten Heimurlaub seit Studienbeginn. Was ihn früher so deprimiert hatte, würde er nun lässig ertragen können: das gezwitscherte „Aufstehen, mein Kleiner“, mit dem Mutter ihn morgens aus dem Bett holte; die Mittagsruhe, wenn sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer legte; die Grabesstimmung, wenn die Eltern mit dem letzten Sonnenstrahl sämtliche Rollläden herunterließen.
Bester Laune schlenderte Sebastian vom Bahnhof nach Hause, die Tasche locker über der Schulter. Beim Metzger ließ er sich eines jener unschlagbaren Leberwurstbrötchen schmieren, obwohl er wusste, dass Mama gekocht haben würde. Und weil ihm die Leberwurst gar zu provinziell im Magen lag, betrat er das Papiergeschäft und fragte nach einer Zeitschrift, von der man dort noch nie gehört hatte.
„Da kommt ja unser Weltenbummler.“
Seine Mutter umarmte ihn so fest, wie er es für gewöhnlich gerade noch zuließ, und er küsste sie so innig, wie er es sich nach dem Wort „Weltenbummler“ soeben noch abringen konnte.
Das Pflaster auf dem linken Nasenflügel war ihm sofort aufgefallen. Es sah entsetzlich aus. Perfekter, mittiger, dezenter hätte man es nicht anbringen können, aber ein Blutstrom hatte sich aus der augenscheinlich noch frischen Wunde bis zur Oberfläche durchgesogen. Früher wäre ihr so etwas nicht passiert, das Pflaster wäre zeitiger gewechselt worden.
Aus dem Keller hörte er seinen Vater die Treppe heraufkommen. Papa musste wieder an seiner Kellerbar gearbeitet haben, der er jede Stunde seiner Freizeit widmete. Der Hammer baumelte locker in seiner Rechten, auf dem Weg hatte er sich noch eine Zigarette angezündet, die ihm nun im Mundwinkel hing. Er hat mich gehört, ging es Sebastian durch den Kopf. Er hat gehört, wie ich Mama begrüßt habe, und dann hat er noch ein bisschen Zeit verstreichen lassen und ein paar Mal auf den Nagel gekloppt, um seinen Auftritt vorzubereiten. Warum sollte er sich auch geändert haben in den letzten drei Monaten.
„Hallo Junge“, sagte Sebastians Vater, der Erich hieß. „Ich bin gleich fertig.“
Er ließ den Hammer in die Schlaufe seiner Arbeitshose gleiten und gab seinem Sohn die Hand. Dann ging er wieder in den Keller.
Sebastian setzte sich mit seiner Mutter in die Küche. Der Kaffee war schwächer als der, den er sich in seiner neuen Unabhängigkeit kochte, aber er war heiß und wurde ihm in seinem alten, ramponierten Max-und-Moritz-Becher serviert.
„Was ist denn mit deiner Nase passiert?“
„Ach nichts“, sagte Emma und sah dabei so tapfer aus dem Fenster, dass Sebastian beinahe die Tränen kamen. Am liebsten wäre er auf sein Zimmer gegangen, um eine Weile allein zu sein. Stattdessen jedoch versuchte er sich an einer dritten Tasse Kaffee, obwohl ihm von der vorigen bereits ein wenig schlecht war.
Zwei Stunden vergingen, bevor Erich seinen Sohn zum zweiten Mal sah. Es entsprach seiner Art von Pünktlichkeit, dass dies just in dem Moment geschah, als der Abendbrottisch fertig gedeckt war. Auch er stellte Sebastian die erwarteten Fragen, wennauch in der ihm eigenen Tönung: Hatte Emma wissen wollen, ob das Geld von zuhause ausreiche, so fragte Erich, ob er es sich gut einteile. Während Emma sich erkundigte, ob es ihm an der Uni gefalle, wollte Erich wissen, wie gut er vorankomme. Und dieweil seine Mutter sich sorgte, ob er schon Anschluss gefunden habe, ging es seinem Vater um nützliche „Kontakte“, die er nicht versäumen sollte zu knüpfen.
Erich war nicht völlig kahl, aber schon seit jungen Jahren mit einem mageren Restkranz geschlagen, der von den Ohren um den Hinterkopf herum führte. Und seit seiner Hochzeit trug sich Erich noch mit einer weiteren Sorge herum: Ungeachtet all seiner erzieherischen Bemühungen hatte sich seine Emma einen Rest ihres eigentümlichen Humors bewahrt, den sie einst als auslösenden Affekt seiner Liebe mit in die Ehe gebracht hatte.
Sebastian ging früh zu Bett an jenem ersten Tag. Die folgende Woche verbrachte er mit seinen ehemaligen Schulfreunden, stets darum bemüht, die alte Zeit wiederaufleben und sein urbanes Überlegenheitsgefühl gegenüber den Daheimgebliebenen nicht durchsickern zu lassen. Erst am letzten Abend sprach er seine Mutter noch einmal auf ihre Verletzung an. Das Nasenpflaster war inzwischen einer seltsam verkratzten, schorfbedeckten Wunde gewichen.
Es war auf einer Party geschehen, die ein Arbeitskollege Erichs anlässlich seines Geburtstags ausgerichtet hatte. Der Mann wohnte zwanzig Kilometer entfernt im nächsten Städtchen, und das Ereignis hätte dort auch begraben werden können, hätte dagegen nicht Emmas besagter Humor gestanden, den Erich mit den Jahren nur noch als „Klatschsucht“ bezeichnete.
Erich wurde sehr ausgelassen an jenem Festabend. Er tanzte mit sämtlichen Frauen des Kreises, und seine Stimmung färbte nicht zuletzt auf Emma ab, die glücklich war wie selten, weil Erich zwischen den verschiedenen Runden immer wieder auf eine einzige, sie, zurückkam.
„Das war das erste Mal, dass er mich genau wie damals angefasst hat, als wir uns kennenlernten´, gestand Emma nach dem zweiten Glas Wein.
Erich griff sich Emma, und Emma genoss es, gegriffen zu werden, und dann kam da ein Lied, das einlud, nicht nur zu tanzen, sondern zu hüpfen, zu springen, und Emma sprang, und Erich sprang, ihr hinterher, in die Luft, unter die flache Decke des kollegialen Partykellers, und die Partykellerdecke war genau wie die Erichs mit Holzpaneelen ausgeschlagen, und das Holz war spröde, Erichs Toupet blieb daran hängen, zitterte kurz unter der Decke und fiel dann zu Boden.
Erich, der gerade noch bester Laune gewesen war, musste vor allen Gästen den Rücken krümmen, die Knie beugen, zu Boden gehen. Und die Partygäste, inklusive Emma, lachten sich scheckig.
„Ich habe einfach nur gelacht. Alle haben gelacht und sich nicht viel dabei gedacht, weil auch dein Vater mitgelacht hat.“
Ihr sei klar gewesen, dass er sich geniert hatte in dem Moment, aber, mein Gott, die Stunden vorher seien viel zu schön gewesen, als dass sie sich lange Gedanken über so ein harmloses Missgeschick hätte machen wollen. Und erst im Nachhinein habe sie sich an den Blick erinnert, den Erich ihr vom Boden her, wo er sein Toupet aufhob, zugeworfen hatte.
„Jedesmal, wenn ich seitdem daran denke, an diesen Blick, bleibt mir das Herz stehen.“
Aber auf der Party war sie noch nicht so weit. Am nächsten Morgen um Neun, als der kleine Supermarkt im Dorf öffnete, ging Emma einkaufen. Zwiebelmett, das sie nicht vorrätig hatte und das Erich immer dann besonders gerne aß, wenn er am Vorabend zu viel getrunken hatte. Und so schwach sie sich auch selber noch fühlte, schwebte sie doch auf Wolken während dieses Einkaufs, denn sie dachte daran, wie er sie gestern angefasst hatte beim Tanzen. Hätte sich jener Blick Erichs da schon vom Hinterkopf zur Stirn vorgearbeitet, sie hätte sich im Supermarkt sicherlich anders verhalten.
In diesem Laden nämlich arbeitet eine Freundin Emmas, mit der sie schon gemeinsam zur Grundschule gegangen war. Die beiden teilten einen running gag, eine Formulierung aus der Discounterwelt, die sich die Freundin während ihrer Lehre hatte angewöhnen müssen, als sie durch die verschiedenen Abteilungen des Supermarkts rotierte: Ich bin im Käse, sagte Emmas Freundin, wenn sie an der Käsetheke arbeitete; und: Ich bin im Fleisch, wenn sie Aufschnitt und Koteletts verkaufte.
Am Tag nach jener Feier stand Emmas Freundin „im Fleisch“, und Emma, übernächtigt wie sie war, gedachte dieser Redewendung, die heute nur eine Assoziation zuließ: das nacke Kopffleisch ihres Mannes, niemandem so vertraut wie ihr und gestern einer Schar lustiger, freundlicher Menschen erstmals offenbart. Und nun, einmal wieder ergriffen von der Ausgelassenheit des Vorabends, dachte sie sich auch nichts weiter dabei, als sie der Schulfreundin unter Kichern und Prusten vom gestrigen Unfall ihres Gatten erzählte.
Emmas Freundin bediente viele Leute im Verlaufe eines Tages. Deshalb wusste binnen weniger Stunden das ganze Dorf, was abends zuvor geschehen war. Erichs ohnehin offenes Geheimnis war nun vollends gelüftet und vogelfrei. Der Erich trägt ein Toupet. Hast du gehört? Die Geschichte von der Emma?
All dies erzählte Emma ihrem Sohn, nachdem Erich bereits ins Bett gegangen war, also nach halb Neun. Und vom vielen Weinen bekam sie die gleichen roten Wangen, die Sebastian entwickelte, während er seiner Mutter weiter zuhörte.
Wenige Tage nach dem Kollegenfest begab es sich, dass Sebastians Vater höchstpersönlich einkaufen ging. Manchmal, wenn er einen Tag frei hatte, empfand er es als Herausforderung, die auf der Rückseite eines alten Bons notierte Artikelaufstellung seiner Frau Stück für Stück abzuarbeiten. An jenem Morgen muss er auf Emmas Freundin getroffen sein, die im Fleisch oder anderswo eingesetzt war. Und von ihr wird er wohl das erfahren haben, von dem er bislang nicht gewusst hatte, dass es seiner ganzen Welt bekannt war.
Wie er die Zeit zwischen dem Einkauf und Emmas Heimkehr von ihrem Arzttermin verbracht hat, wusste Emma nicht. Wahrscheinlich hatte er am Hobbykeller gearbeitet. Nachdem sie ihn in der Wohnung nicht angetroffen hatte, beschloss sie, die Zeit bis zum längst vorbereiteten Mittagessen nicht nutzlos verstreichen zu lassen. Also setzte sie sich in den Wohnzimmersessel, legte ein Handtuch über den Schoß und begann, ihre Fingernägel zu schneiden.
Und irgendwann steht Erich im Türrahmen, und als er seine Frau da sieht, über ihr Geschäft gebeugt, kommt plötzlich alles in ihm hoch. Er sieht sie da sitzen, ganz unschuldig, sieht ihre dichten, noch immer tiefschwarzen Haare, geht auf sie zu und greift mitten hinein in den Schopf.
„Du bist so ein Dämel“, sagt Erich zu Emma. Er will ihr nicht wehtun, bestimmt nicht. Aber dann drückt er sie wohl doch ein bisschen zu roh nach unten, und Emma, starr vor Schreck, bemerkt nicht, dass sie sich dadurch bedrohlich der aufgestellten Nagelschere nähert, die schließlich ihren linken Nasenflügel aufspießt.
Sebastian ging zum Sofa und legte den Arm um seine Mutter. Sie wiegten sich, wie im Tanz. „Komm bald wieder, Junge“, sagte sie zum Abschied.

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