Mittwoch, 5. Juni 2013

Fundstücke (23)

„Mord allerorts. - Ich las Macbeth“

Sechs Zitate aus „Als Mariner im Krieg“, dem Weltkriegstagebuch 1914-18 von Joachim Ringelnatz

Frührich hatte sächsisch-blaue Augen, sächsische Intelligenz, erzählte sächsisch und verweilte sächsisch lange.

Es stellte sich heraus, dass wir alle einmal das Marmorweib kennengelernt hatten. Das war eine sehr hässliche Kokotte, die ihre Opfer in schamloser Weise ausbeutete. Marmorweib wurde sie genannt, weil sie die Kavaliere folgendermaßen ansprach: „Fass mal meine Brüste an. Wie Marmor!“

Besonders gern gab ich mich mit einem idiotischen Kind ab. Es machte Sprünge wie ein Kalb und hatte sonderbare, für mich wunderbare Handbewegungen. Von jeher liebte ich derartige, geistesgestörte Kinder und konnte ihnen stundenlang zuhören. Im Ötztal in Tirol kannte ich ein Dorf, wo jedes zweite Kind idiotisch war, und diese Kinder dort hatten pompöse Namen wie „Germania“ oder „Tudesca“.

In meinem Terrarium beobachtete ich Eidechsen, die ihre Jungen auffraßen oder kleinere Geschwister hinunterwürgten. Die Schlangen fraßen Frösche und bissen die Kröten blutig. Mord allerorts. - Ich las Macbeth.

Kein Petroleum, kein Spiritus mehr, keine Semmeln, kein Fleisch, keinen Zucker. Weil es kein Öl gab, nahmen wir Brillantine. Der Kunsthonig wirkte auf Messerstahl wie auf unsere Zähne wie Säure.

...eine Abschiedstrinkerei, die noch toller verlief als die Rigafeier. Klinker zeigte eine große Fertigkeit darin, ein Bierglas, das ich mir auf den Kopf stellte, mit einem anderen Bierglas herunterzuwerfen. Das genügte dann nicht mehr, und er fing an, mir Gläser mit dem Revolver vom Kopf zu schießen. Dann griffen wir anderen auch zum Revolver und schossen. Schossen zunächst auf die Fotografien der Braut des abwesenden Leutnants. Schossen andere Bilder entzwei. Schossen in die Fenster und in die Gaslampe. Sodann veranstalteten wir Ringkämpfe und begingen sonstige berauschte und uns berauschende Heldentaten, bis wir schließlich mit Lärminstrumenten und das Pfannenflickerlied singend zum Hafen zogen. (...) Unser Katzenjammer am nächsten Morgen war schlimm ...“

 Cuxhaven, Hafen, wo Ringelnatz während des Kriegs stationiert war


Wer diese Kolumne zukünftig jeden Mittwoch zugeschickt bekommen möchte, schreibe eine Mail an thekentaenzer@netcologne.de, Stichwort: Die Köln-Kolumne.

Keine Kommentare: