Mittwoch, 14. März 2012

Geschichten aus 1111 Nächten (20)

Anton und der Blinde

Anton, der alte Taugenichts, schlenderte ziellos durch die Altstadt. Sein vom Vorabend benebeltes Hirn erlaubte ihm keinen klaren Gedanken zu der Frage, was mit diesem Tage wohl anzufangen sei. Zarter Schnee bedeckte das Pflaster, und als er am Fischmarkt anlangte, sah er dort einen blinden alten Mann auf einer Bank sitzen. Und weil er ja ohnehin nichts Besseres vorhatte, ließ er sich neben ihn nieder.
Die beiden stellten einander vor, und der Blinde sprach: „Sag mir, Anton, wie der Schnee ist.“
„Er ist weiß“, antwortete Anton nach einigem Nachdenken.
„Aha“, sagte der Blinde.
Und nach einem weiteren Moment fragte er: „Wie ist weiß?“
„Weiß“, hob Anton müde an, „weiß ist wie Bierschaum.“
„Aha“, machte der Blinde erneut.
Nur um bald darauf nachzuhaken: „Und wie ist Bierschaum?“
„Also Bierschaum“, sagte Anton und leckte sich die Lippen unter der großen, triefenden Nase. „Bierschaum ist wie die Möwen auf dem Rhein, wie die Schwäne auf dem Aachener Weiher ...“
„Aha“, sagte der Blinde.
Und dann wollte er wissen: „Sag mal, Anton, was ist ein Schwan?“
Anton straffte sich ein wenig, als er antwortete: „Tja, also, das ist so ein stattlicher Vogel mit großen Flügeln, einem langen, gebogenen Hals und so einem Schnabel ...“
Dabei beugte Anton seinen Arm und bog das Handgelenk so nach unten, dass es aussah wie ein Schwan. Der Blinde indes streckte die Finger aus und strich langsam und sorgfältig über Antons Arm und Hand. Dann sagte er lächelnd:
„Ah, jetzt weiß ich, wie Schnee ist.“

Weiße Vögel im Römisch-Germanischen Museum

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